Die Zuflucht

Auf meinem Weg zum Glauben spielten Erfahrungsberichte und Biographien von Christen eine wichtige Rolle. Heute möchte ich eines dieser Bücher vorstellen. Ich lese es fast jedes Jahr wieder, weil es mir die Realität Gottes vor Augen führt.

Das Buch „Die Zuflucht“ erzählt die Erlebnisse der Uhrmacherin Corrie ten Boom und ihrer Familie vor und während der Zeit der Besetzung Hollands durch die Nazis. Getrieben durch ihren christlichen Glauben und ihre Liebe zu den Juden als dem Volk Gottes verhalfen sie in Zusammenarbeit mit der holländischen Untergrundbewegung ungefähr 800 Juden zur Flucht, bevor sie verhaftet wurden und schließlich im KZ landeten.

Lange verlief das Leben von Corrie, ihrer Schwester Betsie und ihrem Vater Caspar ten Boom in ruhigen Bahnen. Der Uhrmacherladen in der holländischen Stadt Haarlem nahe Amsterdam war eine Anlaufstelle nicht nur für Uhrreparaturen, sondern auch für Ratsuchende, die mit Vater ten Boom sprechen wollten, und für Hungrige und Durstige, die in der Küche immer einen Topf Suppe und eine Kanne Kaffee vorfanden. Die Zeiten, in denen Pflegekinder das Haus bevölkerten, und die noch früheren Zeiten, in denen die Mutter, drei Tanten und zwei weitere Geschwister von Corrie mit im Haus wohnten, waren längst vorbei, doch es war weiterhin ein Haus, das Liebe ausstrahlte. Corries Mutter hatte einmal gesagt: „Das Glück ist etwas, das nicht von unserer Umgebung abhängt. Es ist in uns oder nirgends.“

Die Besetzung Hollands durch die Deutschen im Frühjahr 1940 stellte das Leben der Familie auf den Kopf. In der Nacht des deutschen Luftangriffs hatte Corrie eine Vision, die sie Böses ahnen ließ: Sie sah einen altmodischen Wagen, der von vier riesigen schwarzen Pferden über den Grote Markt, den großen Marktplatz der Stadt, gezogen wurde. Darin saßen sie selbst, Betsie, ihr Vater, mehrere weitere Familienmitglieder und eine Reihe von Bekannten. Sie konnten nicht aus dem Wagen heraus und wurden weit fortgebracht. Als sie ihrer Schwester von der Vision erzählte, meinte diese: „Wenn Gott uns gezeigt hat, dass wir schlimmen Zeiten entgegengehen, genügt es mir, dass er es weiß. Er zeigt uns manchmal Dinge, um uns zu sagen, dass auch dies in seinen Händen liegt.“

Mit einem Radio, das sie heimlich behielten, verfolgten sie die Nachrichten aus England. In einer Nacht landete bei Luftkämpfen über Haarlem ein Granatsplitter auf Corries Kopfkissen – genau in der Stunde, die sie unten in der Küche verbrachte, weil sie nicht schlafen konnte. Auf ihre Frage, „was wäre passiert, wenn ich im Bett gelegen hätte?“, antwortete Betsie: „Bei Gott gibt es kein ‚wenn‘“.

Nach ungefähr einem Jahr nahm die Diskriminierung der Juden stark zu. Sie mussten den Gelben Stern tragen, und viele von ihnen verschwanden. Als das Geschäft jüdischer Nachbarn geplündert wurde, halfen die ten Booms dem Eigentümer zur Flucht. Der Rabbi von Haarlem vertraute Caspar ten Boom seine Bibliothek an, andere jüdische Freunde ließen ihren Schmuck im Haus des Uhrmachers aufbewahren. Als Corrie im Gebet Gott sagte, dass sie bereit sei, alles, was sie kann, für die Juden zu tun, wiederholte sich die Vision vom Vorjahr. Als der nächste Hilfesuchende vor der Tür stand, sagte Vater ten Boom: „In diesem Haus ist Gottes Volk immer willkommen“. Anfangs half Corries Bruder Willem, der selbst schon länger mit dem Untergrund zusammenarbeitete, diese hilfesuchenden Juden sicher unterzubringen. Aber er sagte Corrie, sie müsse die Lebensmittelkarten für diese Menschen organisieren. Corrie ging zu einem Bekannten am Ernährungsamt, der in der Ausgabe der Lebensmittelkarten arbeitete. Auf die Frage. „Wie viele Karten brauchen Sie?“ wollte Corrie eigentlich „fünf“ antworten, doch aus ihrem Mund kam zu ihrer Überraschung „hundert“. Tatsächlich kam sehr bald die Zeit, dass diese hundert und noch mehr Karten gebraucht wurden. Der Bekannte inszenierte mit Hilfe eines Freundes einen Überfall auf das Ernährungsamt, bei dem die benötigten Karten „gestohlen“ wurden. Corrie wurde bewusst, dass sie halb Haarlem kannte und für alle Zwecke jemand wusste, den sie um Hilfe bitten konnte, zum Beispiel auch bei Geburten und Todesfällen unter den Juden. Bald gab es ein Team von 80 Helfern.

Ihr Neffe Kik machte Corrie direkt mit dem Untergrund bekannt. Dort bekamen die ten Booms professionelle Unterstützung: Ein berühmter Architekt baute in ihrem Haus einen schmalen geheimen Raum. In Corries Zimmer unterm Dach wurde vor der eigentlichen Mauer eine täuschend echt aussehende neue Wand eingezogen. Jemand anders setzte ihr Telefon wieder in Betrieb, obwohl Telefonieren verboten war. Die ten Booms verschlüsselten alles in der Uhrensprache für den Fall, dass sie abgehört wurden. Ein Elektriker vom Untergrund installierte in ihrem Haus einen Summer und montierte Knöpfe zum Auslösen des Summers an allen Stellen, von denen aus man etwas Verdächtiges beobachten könnte. Leute aus dem Untergrund trainierten mit ihnen das schnelle Verstecken, sobald der Summer ertönte. Man durfte nicht vergessen, Papierkörbe und Aschenbecher zu leeren. Wenn der Alarm nachts ertönte, mussten außerdem alle illegalen Hausbewohner die Matratzen ihres Bettes umdrehen und das Bettzeug in den geheimen Raum mitnehmen. Schließlich schafften sie das alles in 70 Sekunden. Auch für die Befragung während einer Razzia wurde geprobt: Corrie musste lernen, ahnungslos zu tun und nichts von versteckten Juden zu wissen, selbst wenn sie nachts von der Gestapo aufgeschreckt würde.

Neben den vielen temporären Gästen hatte das Haus schließlich auch einige Dauergäste, die sich nirgendwo anders unterbringen ließen: einen sehr jüdisch aussehenden jungen Mann, der ihnen als „altmodische Uhr“ telefonisch angekündigt worden war; eine 76-jährige asthmatische Italienerin; dazu noch fünf weitere Dauergäste, unter ihnen drei Helfer, die abends nach der Sperrstunde das Haus nicht mehr verlassen konnten. Diese sieben Dauergäste „bildeten den Kern unseres glücklichen Haushalts“. Man gestaltete ein gemeinsames Abendprogramm mit Hausmusik, Theaterlesungen, Hebräisch- und Italienischunterricht. In der Weihnachtszeit 1943 wurde im Haus auch Chanukkah gefeiert. Als eine Nachbarin sie warnte: „Ihre Juden müssen etwas leiser singen. Wir können sie durch die Wand hören“, wurde ihnen klar, dass die gesamte Nachbarschaft darüber Bescheid wusste, was in ihrem Haus geschah. Sie hätten aufhören müssen, aber sie konnten es nicht um der Menschen willen, denen sie halfen. „Wir mussten weitermachen, aber wir wussten, die Katastrophe würde nicht lange auf sich warten lassen.“

Im Februar 1944 wurden sie verraten, und als Corrie mit Grippe und Fieber im Bett lag, fand eines morgens eine Razzia statt. Die Juden flohen in den geheimen Raum und wurden trotz gründlicher Hausdurchsuchung nicht gefunden. Auch unter Schlägen verrieten Corrie und Betsie nichts. Während des Vormittags wurde das Haus zur Falle: Alle, die hineinkamen, wurden festgehalten, insgesamt 35 Personen. Sie wurden in einen Bus gepackt, der sie zum Verhör nach den Haag bringen sollte. Als sie über den Grote Markt fuhren, erinnerte Corrie sich an ihre Vision. Alle Personen, die sie in der Vision gesehen hatte, saßen in dem Bus...

In den Haag wurde Vater ten Boom wegen seines hohen Alters angeboten, nach Hause zu gehen, wenn er ‚sich nichts mehr zuschulden kommen lässt‘. Er antwortete: „Wenn ich heute nach Hause gehe, werde ich morgen wieder jedem Menschen in Not, der bei mir anklopft, die Tür öffnen.“ Also blieb er gefangen und starb nach 10 Tagen. In dieser Zeit wurde das Haus der ten Booms weiterhin bewacht, da man sicher war, dass sich dort Juden versteckten. Dem Polizeichef von Haarlem gelang es nach ein paar Tagen, zwei mit dem Untergrund zusammenarbeitende Polizisten gleichzeitig zur Bewachung des Hauses einzuteilen. Sie befreiten die Juden und brachten sie in neue Verstecke. Corrie und Betsie wurden ins Gefängnis in Scheveningen gebracht, wo schlimme hygienische Zustände herrschten. Nach wenigen Tagen bekam Corrie Einzelhaft, da sie immer noch krank war. Außer Corrie und Betsie waren nach wenigen Wochen alle im Haus ten Boom Gefangengenommenen wieder frei.

Im Juni 1944 wurden Corrie und Betsie gemeinsam mit vielen anderen Gefangenen in einen Zug gestopft und nach Vught in ein Konzentrationslager für politische Gefangene transportiert. Die Grausamkeit den Gefangenen gegenüber war kaum zu ertragen. Betsie sagte zu Corrie über die Aufseherinnen: „Wenn man Menschen lehren kann zu hassen, muss man sie auch lehren können zu lieben. Wir müssen einen Weg dafür finden.“ Corrie wurde zur Arbeit in der Philips-Fabrik eingeteilt, wo sie beim Bau von Radios mitarbeitete. Betsie organisierte Gebetstreffen in der Baracke.

Nach ein paar Monaten wurden die männlichen Gefangenen erschossen und die weiblichen in einem völlig überfüllten Güterwagen abtransportiert, in dem sie bei unsäglichen sanitären Verhältnissen drei Tage verbrachten. Sie wurden über die deutsche Grenze ins KZ Ravensbrück gebracht. Corrie und Betsie schafften es, einen Pullover, eine Bibel und ein Fläschchen mit Vitaminöl hineinzuschmuggeln, obwohl alle sich ganz ausziehen, nackt an den Wachen vorbei gehen und nach der Dusche Gefangenenkleidung anlegen mussten. Sie kamen in eine völlig überfüllte Baracke, in der 1400 statt der geplanten 400 Personen auf dreistöckigen, mit stinkendem Stroh bedeckten Plattformen schliefen, in denen Flöhe hausten. Betsie bestand auf einem Dankgebet für alles, auch für die Flöhe. Sie mussten täglich 11 Stunden harte körperliche Arbeit verrichten. Betsie wurde geschlagen, weil sie zu schwach für die Arbeit war, und schließlich wurden beide der Strickbrigade zugeteilt, die sich den ganzen Tag in der Baracke aufhielt.

Jeden Abend hielten sie einen Gottesdienst in der Ecke des Schlafraum ab, in der eine Lampe hing. Sie lasen aus der Bibel vor, und wer zweisprachig war, half beim Übersetzen in die verschiedenen Sprachen der Anwesenden. Jede Konfession brachte Elemente in diese Gottesdienste ein. Man sang sogar, wenn auch leise. Corrie wunderte sich, dass nie eine Aufseherin in den Schlafraum kam. Nach einer Weile erfuhr sie den Grund: Wegen der Flöhe… Trotz all dem schrecklichen Leid im KZ schreibt Corrie: „Diese Abende waren ein kleiner Vorgeschmack des Himmels“. Sie beeinflussten die Atmosphäre in der Baracke. „Wo man sich vorher gebalgt und gegenseitig verflucht hatte, hörte man nun ‚Verzeihung‘, ‚es tut mir Leid‘ und ‚Ach, es macht nichts‘.“ Auf Betsies Drängen hin wurde nicht nur für die Gefangenen, sondern auch für die Aufseherinnen gebetet. Die Tropfen aus der Vitaminflasche wurden mit vielen Menschen geteilt, und trotzdem wurde die Flasche nicht leer.

Im November wurde Betsie schwer krank. In den Wochen vor ihrem Tod erzählt sie Corrie von den Zukunftsvisionen, die sie hatte: Sie sah ein Haus, in dem Menschen aufgenommen werden, die durch das KZ körperlichen und seelischen Schaden erlitten haben: Ein schönes, großes, von einem Garten umgebenes Haus mit lichtdurchfluteten Fenstern, Parkettfußboden und Statuen in den Nischen an den Wänden. Betsie sagte, dass sie beide am ersten Januar nicht mehr im KZ sein würden. So kam es auch: Vorm ersten Januar war Betsie tot und Corrie entlassen. Das Gesicht der toten Betsie strahlte Frieden und Freude aus, und man sah ihr den Hunger und die Krankheit der vergangenen Wochen nicht mehr an.

Corrie wurde in einem Krankenhaus aufgepäppelt und fing nach wenigen Monaten an, Vorträge über ihre Erfahrung zu halten und zu erzählen, „dass Freude die Verzweiflung besiegt“. Nachdem sie in einem Vortrag Betsies Vision von einem Haus für KZ-Geschädigte erwähnt hatte, bot eine reiche Frau ihr Haus an. Als Corrie das von einem Garten umgebene Haus mit den hohen Fenstern zum ersten Mal von außen sah, fragte sie: „Gibt es drinnen Parkettfußböden? Und eine breite Galerie, die sich um eine Halle herumzieht, und Statuen in Nischen an den Wänden?“ Ja, so war es…

Im Laufe der Zeit kamen hunderte von Menschen in das Haus, nicht nur ehemalige Gefangene, sondern auch solche, die jahrelang in Mansarden und Kammern versteckt waren. Die Gartenarbeit tat ihnen gut. Sie wurden im Laufe der Zeit sogar dazu fähig, zu vergeben. Corrie selbst erlebte, dass das Vergeben aus eigener Kraft nicht möglich ist: „In einem Gottesdienst in München sah ich ihn, den früheren SS-Mann, der vor der Tür zum Duschraum in Ravensbrück Wache gestanden hatte. Plötzlich war das alles wieder lebendig – der Raum voll spottender Männer, die Kleiderhaufen, Betsies von Schmerz gezeichnetes Gesicht. Als die Kirche sich leerte, kam er strahlend und sich verbeugend auf mich zu. ‚Wie dankbar bin ich Ihnen für Ihre Botschaft, Fräulein‘, sagte er. ‚Mir vorzustellen, dass Er, wie Sie sagen, meine Sünden abgewaschen hat!‘ Er streckte die Hand aus, um meine zu schütteln, aber ich, die ich den Menschen so oft gepredigt hatte, dass sie vergeben müssten, ließ meine Hand herunterhängen. ‚Herr Jesus‘, betete ich, ‚ich kann ihm nicht vergeben. Schenke du mir deine Vergebung.‘ Und als ich seine Hand nahm, geschah etwas ganz Unglaubliches. Von meiner Schulter herunter, an meinem Arm entlang und durch meine Hand schien ein Strom von mir auf ihn überzugehen, während in meinem Herzen eine Liebe zu diesem Fremden aufloderte, die mich fast überwältigte.“

Diese Botschaft Corrie ten Booms von Versöhnung und von Freude, die Verzweiflung besiegt, nehme ich mit in das neue Jahr mit all seinen Spannungen und Ungewissheiten.

Hinweis: Zu Beginn des letzten Jahres stellte ich ebenfalls ein Buch vor, das mich im Glauben ermutigt, „Der Schmuggler Gottes“.

Eine Liste aller bisherigen Blogeinträge befindet sich hier.

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