Ein Volk begegnet Gott

Glauben Sie an Geister? In unserer aufgeklärten westlichen Welt hört man immer wieder, dass der Glaube an Geister überholt sei und Phänomene, die man früher Geistern zugeschrieben hat, psychologisch oder medizinisch erklärbar seien. Das scheint in vielen Fällen zuzutreffen, doch können gewisse Erlebnisse, über die ich in Biographien und Erfahrungsberichten gelesen habe, m.E. dadurch nicht erklärt werden. Von einem solchen Buch möchte ich heute erzählen. Es ist das Buch „And the Word Came with Power“ von Joanne Shetler, das ich immer wieder gerne lese. Die Autorin lebte 20 Jahre lang auf den Philippinen unter dem Volk der Balangao und übersetzte in dieser Zeit das Neue Testament in ihre Sprache.

Als sie im Jahr 1962 mit ihrer Teampartnerin Anne zu den Balangaos kam, gab es dort noch keinen Landestreifen für Flugzeuge. Man musste vom Ende der Straße, die von Manila kam, noch zwei Tagesmärsche wandern, bis man in dem von oben bis unten mit Reisterrassen bedeckten Tal ankam. Die Balangaos wohnen in Häusern auf Stelzen, in die man über eine Bambusleiter klettert, und unter denen die Hühner und Schweine gehalten werden. Joanne Shetler charakterisiert die Balangaos als freundliche, warme, lebenslustige Menschen. Auch wenn sie zunächst darüber enttäuscht waren, dass die angekündigten „Amerikaner“ Frauen und nicht die erwarteten Männer waren, nahmen sie sie auf. Einer der Dorfältesten stellte den beiden ein Haus zur Verfügung und behandelte sie wie seine Töchter. Als sie nach ein paar Monaten in der Sprache der Balangaos kommunizieren konnten, nannten sie ihn nur noch „Ama“, das heißt „Vater“. Sie hatten inzwischen erkannt, dass sein Rat immer weise ist und sie vor vielen kulturellen Fehlern bewahrt. Umgekehrt war Ama sehr geduldig mit ihnen, denn er erkannte, dass man den Amerikanern viele aus Sicht der Balangaos offensichtliche Dinge erklären muss, z.B. dass man nur dann das Recht hat, jemandem zu belehren, wenn derjenige Fragen stellt.

Die Balangaos waren traditionell Kopfjäger. Dieser Brauch war zwar im Abklingen, aber Fehden mit anderen Stämmen kosteten immer noch viele Menschenleben. Erst wenn man auf fremdem Gebiet in ein Haus zum Essen eingeladen wurde, stand man unter dem Schutz des Gastgebers und war vor Angriffen sicher. Der Alltag der Balangaos wurde von bösen Geistern und schlechten Omen bestimmt. Alles Fleisch, das sie aßen, war von Tieren, die den Geistern geopfert wurden. Wenn jemand krank war, wurde ein Medium gerufen, damit man von den Geistern erfahren konnte, womit man sie beleidigt hat und was man opfern musste, um sie zu besänftigen. Als Joanne zum ersten Mal bei einer solchen Geisterbefragung dabei war, war sie völlig sprachlos: Ein Junge hatte Lungenentzündung und war kurz davor zu sterben. Das Medium, eine alte Frau mit Namen Chalinggay, rief die Geister mit Namen. Dann wurde sie von Krämpfen erfasst und wurde steif und bewusstlos. Als sie wieder zu sich kam, sprach eine männliche Stimme aus ihr. Die Geister verlangten drei Schweine, zwei Hühner, Reis, Wein und Perlen. Als die Geister sie verließen, wurde Chalinggay heftig gezerrt, und sie hatte danach einen wunden Hals und schmerzenden Kopf. Der Vater des Jungen brachte die verlangten Opfer. Am nächsten Tag war der Junge gesund.

Die Menschen im Dorf verstanden lange Zeit nicht, warum Joanne und Anne zu ihnen gekommen waren, doch sie schätzten die medizinische Hilfe, die sie leisteten. Am Anfang war nur eine Person, Tekla, an dem interessiert, was Joanne und Anne den Balangaos über Gott erzählen wollten. Als sie ein Kind war, kam ein wandernder Priester durch das Dorf und erzählte von Gott, der durch seine Engel Kinder beschützt. Seitdem sehnte Tekla sich danach, diesen Gott, der Kinder liebt, kennenzulernen, und weigerte sich, den Geistern zu opfern. Sie war oft krank und fühlte sich von den Geistern verfolgt. Sie war nahe daran, sich doch mit den Geistern zu arrangieren und Opfer zu bringen, als Joanne und Anne ins Dorf kamen. Tekla verbrachte viele Stunden bei ihnen und half ihnen, die Sprache zu lernen. Sie bat Gott, in ihr Leben zu kommen und erlebte, dass Gott stärker ist als die Geister.

Als Anne nach zwei Jahren die Philippinen wieder verließ, blieb Joanne allein zurück. Ama, der verhindern wollte, dass sie sich einsam fühlt, lud sie ein, alle Mahlzeiten mit seiner Familie einzunehmen.

Neben Tekla half auch Andrea, eine kinderlose verheiratete Frau, Joanne beim Übersetzen. Andrea sehnte sich nach einem Kind und opferte den Geistern, ohne Erfolg. Schließlich betete sie zu Gott um ein Kind und wurde schwanger. Als die Geburt kurz bevorstand, flog Joanne zur nächsten Stadt, um von dort für ein Jahr Heimaturlaub nach Kalifornien weiterzureisen. Andrea betete, dass Joanne nochmal zurückkäme, um ihr bei der Geburt beizustehen. Denn seit Joanne zu den Balangaos gekommen war, starben viel weniger Frauen bei den Geburten. Andreas Gebet wurde erhört: der amerikanische Botschafter wollte genau in diesem Moment ein Übersetzungsprojekt besuchen und entschied sich für die Balangaos, und so wurde Joanne nochmal für einen Tag in das Dorf geflogen. In der Nacht, in der sie dort war, wurde Andreas Baby geboren.

Als Joanne nach einem Jahr zurückkehrte, wurde sie von der Nachricht geschockt, dass das Baby vor wenigen Tagen gestorben war. Sie machte Gott Vorwürfe und dachte, Andrea würde ihren jungen Glauben wieder verlieren. Doch Andrea kam es gar nicht in den Sinn, Gottes Handeln zu hinterfragen. Die Balangaos hatten seit langem gelernt, dass übernatürliche Mächte tun können, was ihnen gefällt. Sie wurden durch Melisas Tod sogar offener für den Glauben. Joanne wurde darüber ausgefragt, was nach dem Tod auf uns zukommt und wo die kleine Melisa jetzt ist. Sie erzählte ihnen vom Himmel und von der Auferstehung.

Eines Tages geriet Joanne in einen offenen Kampf mit den Geistern: Der Sohn eines frisch zum Glauben gekommenen Mannes lag auf einmal im Sterben, und man rief Chalinggay, das Medium. Als Joanne, die ebenfalls herbeigerufen wurde, zum Haus der Familie kam, hatte dort schon die Geisterbefragung begonnen. Joanne war so wütend auf die Geister, dass sie die Befragung unterbrach und Chalinggay packte und aus dem Haus zerrte. Dann erklärte sie den erschrockenen versammelten Dorfbewohnern, dass die Geister den Jungen nur deshalb krank gemacht hätten, damit sein Vater ihnen wieder opfere. Doch Gott sei stärker und würde nicht zulassen, dass der Junge stirbt. Sie war selbst erschrocken über ihre Kühnheit und betete intensiv zu Gott, dass der Junge nicht stirbt. Als sie ihn untersuchte, konnte sie keine Krankheit erkennen, nur sein Hals tat weh. Er erzählte, die Geister hätten ihn auf den Hals geschlagen, als er sie kommen sah und vor ihnen fliehen wollte. Joanne ging an einem der nächsten Tage zu Chalinggay in der Absicht, sich zu entschuldigen. Doch der Zorn auf die Geister kochte immer noch in ihr, und so fragte sie Chalinggay stattdesssen, warum sie den Geistern diene, wo diese sie doch so schlecht behandeln, all ihre Kinder sterben ließen und ihr nachts so viele Ängste einjagen, dass sie nicht schlafen kann. Sie solle doch aufhören zu tun, was die Geister von ihr wollen, und Gott bitten, sie wegzuscheuchen. Zu Joannes völliger Überraschung ging Chalinggay darauf ein und fragte, was sie zu Gott sagen solle, damit er die Geister wegscheucht. Joanne sagte „Du kannst sagen: ‚Lieber Gott, bitte schicke die Geister fort, in Jesu Namen.‘“ Am nächsten Tag kam Chalinggay angerannt und krümmte sich vor Schmerz, als würde jemand auf sie einstechen. Sie hatte die ganze Nacht das Gebet gebetet, doch die Geister kamen immer wieder. Joanne sagte ihr, wenn sie ihre Sünden bereuen und Gottes Kind würde, würde sie vor den Geistern geschützt. Chalinggay betete auf der Stelle und lieferte ihr Leben Gott aus. Die Schmerzen hörten sofort auf. Zum ersten Mal nach vielen Jahren konnte Chalinggay in der Nacht gut schlafen.

Als am Tag darauf ein weiteres Medium, die 80-järige Forsan, es Chalinggay nachmachte und ebenfalls beschloss, Gott zu folgen statt den Geistern, hielt das ganze Dorf dem Atem an und wartete darauf, dass die beiden Frauen sterben würden, so wie es bisher das Schicksal jedes Mediums war, das den Geistern absagte. Doch sie starben nicht, und immer mehr Dorfbewohner erkannten, dass Gott stärker ist als die Geister, und nahmen ebenfalls den christlichen Glauben an. Für Balangaos war Glauben nicht ein Lippenbekenntnis, sondern er bedeutete Gehorsam. So wie sie bisher den Geistern gefolgt waren, wollten sie nun Gott gehorchen.

Inzwischen ging das Übersetzungsprojekt weiter voran, und die Balangaos hatten nun schon mehrere Teile des Neuen Testaments in ihrer Sprache. Joanne war erstaunt, wie jeder neu übersetzte Bibeltext von den Gläubigen sofort in die Praxis umgesetzt wurde, und wie Gott den schlichten Glauben dieser Menschen bestätigte. Ein Mann, der den Jakobusbrief gelesen hatte, rief Joanne um Hilfe, als seine beiden Kinder giftige Beeren gegessen hatten und nun mit heftigem Durchfall und Erbrechen todkrank waren. Er sagte, im Jakobusbrief stehe, man solle für die Kranken beten. Zögernd ging Joanne auf den Wunsch des Mannes ein und betete für die Kinder. Zu ihrem Erstaunen hörten Erbrechen und Durchfall sofort auf. Der Mann war nicht überrascht; er hatte das erwartet.

Mit der Zeit übernahmen die Ältesten aus dem Dorf immer mehr die Führung der jungen Gemeinde. Als sie in der Apostelgeschichte lasen, dass die Nachfolger Jesu loszogen, um auch Menschen in ihrer Umgebung das Evangelium zu verkündigen, gingen einige von ihnen zu Nachbarstämmen, um zu erzählen, was Gott bei den Balangaos getan hat. Die Balangaos waren der Meinung, dass ihre Nachbarn die Botschaft von Gott viel schneller verstehen werden, wenn sie sie von ihnen hören und nicht nur von Fremden. Fremde begehen so viele kulturelle Fehler, dass man nur schwer verstehen kann, was sie mitteilen wollen. Als eines Tages Balangaos und Ifugaos gemeinsam beim Essen saßen, saß Ama kopfschüttelnd da und konnte es kaum fassen, dass diese seit Menschengedenken verfeindeten Stämme sich nicht mehr gegenseitig die Köpfe abschlagen.

Nach 20 Jahren konnte das fertig übersetzte, korrekturgelesene und gedruckte Neue Testament endlich den Balangaos ausgehändigt werden. Joanne reiste zurück in die USA, doch mit ihren vielen Freunden und besonders mit Amas Familie in Balangao blieb sie natürlich weiterhin in Kontakt.

Hinweis: Vor einem und vor zwei Jahren habe ich ebenfalls zum Jahreswechsel ein im Glauben ermutigendes Buch vorgestellt: „Die Zuflucht“ von Corrie ten Boom und „Der Schmuggler Gottes“, die Lebensgeschichte von Bruder Andrew.

Eine Liste aller bisherigen Blogeinträge befindet sich hier.





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