Die offenen Fragen der Kosmologie

Es ist beeindruckend, was wir alles über das Universum herausfinden konnten: Das Universum ist riesig und enthält mindestens 200 Milliarden Galaxien, von denen jede ca. 100 Millarden Sterne umfasst. Licht braucht zwischen 3.000 und 300.000 Jahren, um eine Galaxie zu durchqueren; von den am weitesten entfernten Galaxien, die wir mit Weltraumteleskopen noch sehen können, war das Licht bis zu uns sogar 13,5 Milliarden Jahre lang unterwegs. Das Alter des Universums beträgt ungefähr 13,7 Milliarden Jahre.

Wenn wir mit den Weltraumteleskopen in die Tiefen des Universums schauen, schauen wir gleichzeitig in seine Vergangenheit. Wie die Kosmologie als Wissenschaft begann und man entdeckte, dass das Universum ganz klein und heiß anfing, habe ich im Blogbeitrag „Am Anfang war der Urknall“ erzählt. Wenn man die verschiedenen Arten von Beobachtungen mit physikalischen Modellen und Rechnungen verbindet, entsteht ein gut fundiertes Gesamtbild von der Geschichte unseres Universums: Nachdem die ersten Atome ca. 380.000 Jahre nach dem Urknall entstanden, dauerte es noch fast 400 Millionen Jahre, bis es Sterne und Galaxien gab. Die kleinen anfänglichen Dichteunterschiede im Universum führten allmählich dazu, dass sich die Materie unter dem Einfluss der Gravitationskraft an den dichteren Stellen weiter verdichtete und schließlich Sterne entstanden, in denen die Kernfusion begann. Inzwischen simuliert man die Entwicklung der Materiedichte des Universums auf Basis der bekannten physikalischen Gesetze und Parameter sogar am Computer, wie in diesem Film zu sehen ist, der einen kleinen Ausschnitt des Universums (mehrere Millionen Lichtjahre im Durchmesser) simuliert. Die leuchtenden Objekte in diesem Film sind nicht Sterne, sondern Galaxien!

Bei all diesen eindrucksvollen Erfolgen der Kosmologie gibt es allerdings auch viele offene Fragen. Kürzlich hörte ich einen Vortrag hierüber von dem bekannten Kosmologen George Ellis, der sich nicht nur mit Kosmologie, sondern auch mit philosophischen und theologischen Fragen beschäftigt hat. Die folgenden Ausführungen gehen auf diesen Vortrag zurück, dessen Inhalte in ähnlicher Form auch in diesem Artikel zu finden sind.

Die Kosmologie ist anders als andere Wissenschaftsgebiete: In anderen Wissenschaften hat man normalerweise mehrere Objekte derselben Sorte, die man untersuchen kann, aber wir haben nur ein Universum. Und selbst dieses können wir nur von einem Standpunkt aus untersuchen und nur so weit, wie unsere Teleskope reichen. Es gibt Bereiche des Universums, von denen bisher kein Licht zu uns kommen konnte und auch in Zukunft nicht kommen wird, weil sie zu weit entfernt sind und weil durch die fortdauernde Ausdehnung des Universums die Entfernung immer größer wird. Daher wissen wir auch nicht, wie groß das Universum wirklich ist. Vielleicht ist es so klein, dass wir ziemlich das ganze Universum sehen können, aber womöglich ist es auch um viele Größenordnungen größer. Ein unendlich großes Universum schließt George Ellis aus. Unendlichkeiten sind Objekte der Mathematik, aber sie haben keine physikalische Realität.

Soweit wir blicken können, sieht das Universum in allen Richtungen gleich aus und folgt denselben Naturgesetzen. Wenn die Naturgesetze in ferner Vergangenheit anders gewesen wären, wäre z.B. das Spektrum der kosmischen Hintergrundstrahlung nicht durch dieselbe Formel beschreibbar wie unsere heutigen Spektren von Wärmestrahlung. Aber wir können nicht zwingend ausschließen, dass die uns nicht zugänglichen Bereiche des Universums andere Gesetze oder andere Naturkonstanten haben.

Wir können mit unseren Teleskopen in der Zeit nicht weiter zurückschauen als bis zur Entstehung der kosmischen Hintergrundstrahlung, als das Universum ca. 380.000 Jahre alt war. Damals, als sich Elektronen und Protonen zu Atomen verbanden (man nennt dies die „Rekombination“), wurde das Universum erstmals durchlässig für elektromagnetische Strahlung. Doch auch über die Zeit vor der Rekombination konnten wir einiges herausfinden, indem wir die winzigen Variationen in der kosmischen Hintergrundstrahlung analysierten. Diese Variationen entstanden durch Dichte- und Druckschwankungen im frühen Universum, und diese wiederum können wir mit Modellrechnungen vergleichen. Wir können außerdem berechnen, welche Kernreaktionen im ganz heißen und dichten Universum abgelaufen sind. In dieser frühen Phase des Universums wurde aus Wasserstoff Helium gebildet, und unsere Berechnungen stimmen überein mit den Mengen Helium, die wir im Weltraum finden. (Die Menge an Helium, die in Sternen erzeugt wird, ist demgegenüber gering.)

Doch die ganz dichte und heiße Phase des Universums ist noch nicht der Anfang. Die Mehrheit der Kosmologen gehen davon aus, dass es vorher eine kosmische Inflation gab, bei der das Universum sich extrem schnell um einen riesigen Faktor ausdehnte. Auch nach der Inflation war das Universum noch klein; Schätzungen reichen von zehntel Millimetern bis Metern. Durch die Theorie der Inflation lassen sich mehrere Rätsel gleichzeitig lösen, darunter die Fragen warum das Universum in allen Richtungen so gleich aussieht und warum man auf kosmischen Distanzen praktisch keine Raumkrümmung messen kann. Allerdings gibt es ca. 120 verschiedene Modelle für die kosmische Inflation, und sie benötigen Parameter, die man bisher nicht weiter begründen kann. Einige dieser Modelle führen dazu, dass das Universum keinen zeitlichen Anfang hat, weil die Inflation schon seit unendlich langer Zeit stattfand (aber dafür unendlich langsam). Wie der Übergang von der Inflation, die als ein Quantenprozess angesehen wird, zur ‚klassischen‘ kosmischen Entwicklung geschah, ist bisher ungeklärt.

Einige Physiker spektulieren über diejenigen Gesetze, die beschreiben, wie Universen entstehen. Sie meinen, dass es viele, womöglich unendlich viele Universen gibt. Man spricht dann vom „Multiversum“. George Ellis hält nichts von solchen Spekulationen, da sie die Grenzen der Physik überschreiten: Physik befasst sich mit Dingen, die wir empirisch prüfen können. Die Existenz von anderen Universen können wir aber nicht prüfen. Ebenso wenig sinnvoll ist es, über Gesetze für die Erzeugung von Universen zu reden. Die Gesetze der Physik gibt es erst, wenn es das Universum gibt; denn die Gesetze beschreiben, nach welchen Regeln das Universum funktioniert.

Wie das Universum enden wird, ist ebenfalls unklar. Das Standard-Modell der Kosmologie führt auf eine fortdauernde Ausdehnung des Universums. Doch wir wissen noch nicht, was hinter der dunklen Materie und der dunklen Energie steckt, die beide eine wichtige Rolle in diesem Modell spielen. Die „dunkle Materie“ strahlt kein Licht aus, ist aber durch ihren Gravitationseffekt spürbar. Im kosmologischen Standardmodell wird sie als kalte Materie behandelt, die nichts anderes macht, als per Gravitation mit anderer Materie zu wechselwirken. Die „dunkle Energie“ ist eine Bezeichnung für die Kraft, die das Universum auseinander treibt. Im Standardmodell entspricht sie Einsteins kosmologischer Konstante. Er baute sie anfangs in seine Allgemeine Relativitätstheorie ein, damit nicht alle Materie durch die Gravitation zusammengezogen wird. Doch hinter der dunklen Energie kann auch etwas anderes stecken, und von ihrer Beschaffenheit hängt es ab, wie oder wie lange sich das Universum in Zukunft ausdehnt.

Eine weitere ungeklärte wichtige Frage ist, ob es anderswo im Universum Leben gibt, vielleicht sogar intelligentes Leben. Einige meinen, das Leben auf der Erde sei einmalig, da das Zusammenkommen so vieler spezieller für das Leben notwendiger Umstände extrem unwahrscheinlich ist. Andere meinen, es gebe an vielen Stellen im Universum Leben, denn unser Universum sei so beschaffen, dass es Leben ermöglicht. Doch selbst wenn es anderes Leben gibt, ist es fraglich, ob wir das jemals erfahren würden.

Zu allen wissenschaftlichen Fragen gibt es eine Reihe philosophischer Fragen über das Universum, die die Physik grundsätzlich nicht beantworten kann: Warum gibt es das Universum? Warum ist es so, wie es ist? Warum sind die Naturgesetze so, wie sie sind? Es war eine verblüffende Entdeckung, als man herausfand, dass im Universum keine Sterne, Planeten oder Lebewesen existieren könnten, wenn die Naturkonstanten andere Werte hätten. Man spricht von der kosmischen Feinabstimmung, von der ich in einem früheren Blogbeitrag berichtet habe. Manche versuchen, das Problem der Feinabstimmung zu lösen, indem sie an ein Multiversum glauben, in dem jedes Universum zufällige Werte der Naturkonstanten hat. Unter diesen vielen Universen müsse zwangsläufig eines dabei sein, in dem die Naturkonstanten passend für das Leben sind. Doch George Ellis meint, diese Idee sei unwissenschaftlich, da sie reine Spekulation ist. Außerdem würde das Multiversum das eigentliche Problem nicht lösen, sondern nur um eine Stufe verschieben: Dann stellt sich nämlich die Frage, wieso das Multiversum genau so beschaffen ist, dass es Universen ermöglicht, in denen Leben entstehen kann...

Man kann also die tiefen philosophischen Fragen, die das Universum aufwirft, nicht mit der Physik beantworten. Hierfür ist die Metaphysik zuständig. Je nach weltanschaulicher Überzeugung werden unterschiedliche Antworten gegeben: Für die einen ist das Universum Zufall, für die anderen eine nicht hinterfragbare Tatsache, für die dritten geht es auf den Willen des Schöpfers zurück. Für mich ist die dritte Antwort aus vielen Gründen am plausibelsten. Darüber habe ich in diesem Blog ja schon einiges geschrieben.

Eine Liste aller bisherigen Blogeinträge befindet sich hier.

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