Die Entschuldigung wegen „Irreführung der Öffentlichkeit“

Im Jahr 1986 wurde das 300-jährige Jubiläum von Issac Newtons Hauptwerk „Principia“ gefeiert. Mit diesem Buch begründete Newton die Klassische Mechanik und öffnete die Tür für die moderne Physik. Bei der Jubiläumsfeier hielt Professor James Lighthill, der zu dem Zeitpunkt Newtons Lehrstuhl in Cambridge innehatte, eine denkwürdige Rede, in der er die folgenden Sätze sagte:

Wir sind uns heute zutiefst dessen bewusst, dass der Enthusiasmus unserer Vorgänger für die großartigen Errungenschaften der Newtonschen Mechanik sie dazu führte, allgemeine Schlussfolgerungen über die Vorhersagbarkeit mechanischer Systeme zu ziehen, an die man bis zu den 1960er Jahren geglaubt hat, aber von denen wir heute erkennen, dass sie falsch waren. Wir möchten uns gemeinsam dafür entschuldigen, dass wir die breite gebildete Öffentlichkeit irregeführt haben.“

Um zu verstehen, was Lighthill meint, müssen wir ein wenig auf die Geschichte der Physik zurückblicken. Newtons Gesetze machten einen extrem starken Eindruck. Newton zeigte nämlich, dass die Kraft auf ein Objekt seine Bewegung bestimmt. Insbesondere führte er die Gravitationskraft ein. Der Legende nach kam Newton die Idee für die Gravitationskraft, als er unter einem Apfelbaum saß und ein Apfel zur Erde fiel. Er erkannte, dass nicht nur die Erde den Apfel anzieht, sondern auch der Apfel die Erde. Die Gravitationskraft bestimmt nicht nur den Fall von Objekten auf der Erde, sondern auch die Bewegung des Mondes um die Erde und die der Planeten um die Sonne. Newton zeigte, dass die drei Keplerschen Gesetze aus dem Gravitationsgesetz abgeleitet werden können. Auch die Fallgesetze von Galilei leitete Newton aus dem Gravitationsgesetz her. Es schien, dass man die Bewegung aller Objekte berechnen könne, wenn man nur die Kräfte zwischen ihnen kennt und ihre Anfangsposition und -geschwindigkeit. So entstand die Idee, dass die Natur im Prinzip berechenbar sei. Man stellte sie sich wie ein riesiges Uhrwerk vor mit seinen Zahnrädern und Federn, das Gott am Anfang aufgestellt hat, und das seitdem seinen programmierten Verlauf nimmt. Dieses mechanistische, deterministische Weltbild dominierte die Vorstellung von der Natur über mehr als 200 Jahre.

Wenn ich im Zyklus der Vorlesungen zur Theoretischen Physik die Klassische Mechanik lehre, verbringe ich einen großen Teil des Semesters damit, den Studierenden die verschiedenen mathematischen Formulierungen der Klassischen Mechanik vorzustellen und mit ihrer Hilfe mechanische Probleme zu lösen. Diese verschiedenen Formulierungen wurden erstellt auf der Suche nach einem Rezept, wie man die Bahn, auf der sich Objekte bewegen, direkt aus den Kräften berechnen kann. (Für Insider: Diese Formulierungen sind Newtons Mechanik, der Langrange-Formalismus erster und zweiter Art, die Hamiltonsche Mechanik und der Hamilton-Jacobi-Formalismus.)

Der Traum von der Berechenbarkeit der Natur wurde durch die wissenschaftlichen Revolutionen im letzten Jahrhundert zerstört, insbesondere durch die Quantenmechanik und die Chaostheorie. In diesem Blogbeitrag beschränke ich mich auf die Chaostheorie, da sie direkt aus der klassischen Mechanik entstand und da Professor Lighthill im obigen Zitat auf die Chaosforschung anspielt, die sein eigenes Fachgebiet ist.

Alle Versuche, ein allgemeines Lösungsrezept für mechanische Probleme zu finden, scheiterten. Allerdings fand man für eine bestimmte Sorte von mechanischen Systemen ein solches Rezept. Man nennt sie die „integrablen Systeme“, weil das Lösen auf ein Berechnen von Integralen zurückgeführt werden kann. Die Lösungen lassen sich dann als eine Überlagerung aus periodischen Bewegungen darstellen. Da sich die Übungsaufgaben an Schule und Universität normalerweise auf solche integrablen Systeme beschränken, wird oft auch heute der falsche Eindruck erweckt, die Natur sei berechenbar.

Im Jahr 1887 schrieb König Oscar II von Schweden anlässlich seines 60. Geburtstages einen Preis für die Lösung des „Dreikörperproblems“ aus. Während man die Bahnen von zwei Himmelskörpern, die einander umkreisen, ausrechnen konnte, war dies für mehr als zwei Himmelskörper bisher nicht gelungen. Der Preis ging an den französischen Mathematiker und Physiker Henri Poincaré. Er löste zwar das Problem nicht, erzielte aber durch seine Untersuchungen einen großen Fortschritt. Poincaré machte zwei wichtige Entdeckungen: Erstens fand er heraus, dass eine winzige Änderung der Anfangsposition eines der Himmelskörper nach kurzer Zeit einen ganz anderen Verlauf seiner Bahn ergibt. Dies ist für mich absolut beeindruckend, denn er hatte nur Papier und Stift zur Verfügung und nicht unsere modernen Computer! Als zweites untersuchte er, was passiert, wenn man zu einem integrablen System eine kleine Störung (z.B. den Einfluss eines weiteren Planeten) addiert, die das System nichtintegrabel macht. Die Erwartung, dass eine kleine Störung eine kleine Änderung der Bahnen macht, erwies sich als falsch. Poincaré bewies, dass eine kleine Störung zu einer grundlegenden Änderung der Bahnen führen kann, so dass sie irregulär werden und sich nicht mehr als Kombination aus periodischen Bewegungen beschreiben lassen. Diese beiden Eigenschaften, nämlich die empfindliche Abhängigkeit der Bahnen von den Anfangsbedingungen und ihr irregulärer Verlauf, kennzeichnen Chaos. Einige der Rechnungen und Überlegungen von Poincaré sind Teil meiner Vorlesung zur Theorie des Chaos, die ich im vergangenen Semester gehalten habe.

In den folgenden Jahrzehnten entwickelten Poincaré und andere Mathematiker die Theorie des Chaos weiter, doch zunächst wurden diese Arbeiten von den Physikern ignoriert und als mathematische Spielerei betrachtet. Die Physiker wussten zwar um irreguläre Bewegung in der physikalischen Welt, doch sie dachten, dass irreguläre Bewegung meist auf das Zusammenspiel vieler Einflüsse zurückgeht. Das Dreikörperproblem, bei dem schon eine kleine Zahl von Einflüssen (nämlich die Gravitationskraft zweier weiterer Himmelskörper) schon zu irregulärer Bewegung führt, betrachtete man als große Ausnahme.

Erst ab den 1960er Jahren, als die ersten Computer aufkamen, wurde allmählich deutlich, dass chaotische Bewegung keine komplizierten Ursachen braucht, sondern das ganz typische Verhalten aller nicht integrablen Systeme ist. Diese Entdeckung war ein Schock für die Physiker und brachte sie dazu, ihre bisherigen Vorstellungen über die Natur zu hinterfragen. Der Traum von der Berechenbarkeit der Natur war nun endgültig geplatzt. Damit zerbrach auch die wissenschaftliche Grundlage für die Vorstellung, die Natur sei deterministisch. Weil eine winzige Änderung der Anfangsbedingungen auf völlig andere Bahnen führt, kann man den Determinismus grundsätzlich nicht mehr nachprüfen. Wir können nämlich nicht dieselbe Anfangsbedingung völlig exakt reproduzieren. Kleine Unsicherheiten über den exakten Zustand und damit über seine zukünftige Entwicklung bleiben immer bestehen. Und es gibt gute Gründe zu glauben, dass die Natur selbst ihren Zustand gar nicht so scharf festlegt. Die Heisenbergsche Unschärferelation der Quantenmechanik sagt uns ja, dass Ort und Geschwindigkeit eines Objekts gar nicht gleichzeitig völlig genau bestimmt sind…

Für mich und viele andere bedeutet die Entdeckung des Chaos die Befreiung von einer Vorstellung, die eigentlich niemals so richtig dazu gepasst hat, wie wir die Welt erleben. Wir erleben nämlich keine deterministische, durch die physikalischen Kräfte in ihrem Lauf vollständig festgelegte Welt, sondern wir können diesen Lauf durch unsere Entscheidungen und Handlungen beeinflussen. Das deterministische Sicht passt auch nicht zur christlichen Vorstellung von Gott, der in der Welt schaffend tätig ist und sogar auf Gebete eingeht.

Die Entdeckung des Chaos erinnerte die „breite gebildete Öffentlichkeit“ (siehe obiges Zitat) daran, sich davor zu hüten, aus physikalischen Theorien Weltbilder abzuleiten, die die gesamte Natur umfassen. Erst recht sollte man auf sie keine Weltanschauung gründen, die darüber hinaus auch Aussagen über Gott oder seine (Nicht-)Existenz macht. Diese Warnung wird m.E. nicht oft genug gehört, denn aus unseren neuesten physikalischen Theorien werden ebenfalls weltanschauliche Schlussfolgerungen gezogen. So ist mir schon die Auffassung begegnet, dass Gott wegen des Chaos keine Kontrolle über den Lauf der Welt haben kann oder nicht wissen kann, was die Zukunft bringt. Einer Kollegin und Chaosforscherin, die mir gegenüber einmal diesen Gedanken äußerte, entgegnete ich, dass diese Argumentation Gott keine Möglichkeit lasse, irgendeine Welt zu schaffen: Egal welche Eigenschaften Gott der Welt mitgibt, folgern wir jedesmal, dass diese Eigenschaften sein Handeln in der Welt unmöglich machen: Als wir glaubten, die Welt sei deterministisch, meinten wir, er könne sie nicht lenken, weil schon die Naturgesetze alles Geschehen festlegen. Jetzt, da wir glauben, die Welt sei nicht deterministisch, meinen wir, er könne sie immer noch nicht lenken, weil sie sich unkontrollierbar verhält. Es wird Zeit, dass wir lernen, die Grenzen unserer Theorien zu erkennen….

Hinweis: Im Internet findet man viele Beispiele für chaotische Systeme, z.B. das Doppelpendel, das Dreikörperproblem, manche Arten von Räuber-Beute-Dynamik, die Bewegung von Billardkugeln in nicht rechteckigen Billardtischen, bestimmte elektronische Schaltkreise, das Wetter und viele mehr. 

Die Frage, ob die Naturgesetze und der Zufall damit zusammenpassen, dass Gott in der Welt handelt, wird auch in den Beiträgen vom 19.6. und 13.2. diskutiert.

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