Gewalt unter Pflanzen

Wenn ich das Wort ‚Paradies‘ höre, taucht vor meinem inneren Auge unwillkürlich ein Bild von einer üppigen Pflanzenwelt auf mit einer Vielfalt von Tieren, die sich von diesen Pflanzen ernähren. Raubtiere kommen in dieser heilen Welt nicht vor. Und wenn es dort Löwen gibt, dann fressen sie Stroh.

So ähnlich wird es oft dargestellt, und dies hat sich uns tief eingeprägt. Mein gesamtes ökologisches Wissen über die Unmöglichkeit einer solchen Szene mit unseren irdischen Lebewesen kann dieses Bild nicht wegwischen…

So kam es, dass ich überrascht und enttäuscht war, als ich lernte, dass es selbst unter Pflanzen Gewalt und Ausbeutung gibt. Ein Vortrag und eine Führung des Leiters des Darmstädter Botanischen Gartens, Stefan Schneckenburger, führte dies plastisch vor Augen. Einige Beispiele möchte ich im Folgenden vorstellen.

Bei der Würgefeige ist der Name Programm: Sie erwürgt den Baum, auf dem sie wächst, und verschafft sich so einen Platz im Regenwald. Auf der Seite Faszination Regenwald wird ihr Lebenszyklus anschaulich beschrieben:

„Im Gegensatz zu einer Liane beginnt das Leben einer Würgefeige wenig spektakulär im Kronendach. Dort setzt ein fruchtfressendes Tier, zum Beispiel ein Vogel oder ein Affe, Kot und damit den Samen einer Würgefeige ab. Unter günstigen Bedingungen keimt der Same und die junge Feige beginnt zu wachsen. Anfangs lebt sie als Aufsitzerpflanze (Epiphyt) im Kronendach. Doch das wird bald anders werden, denn sie beginnt Luftwurzeln in Richtung Waldboden zu schicken – manche frei in der Luft, manche am Stamm des Wirtsbaums entlang.

Die Umarmung der Würgefeige hat natürlich Folgen für den Wirtsbaum. Dessen Stamm wird durch das enge Geflecht der Feige regelrecht stranguliert, seine Leitgefäße werden abgeschnürt. Und als ob dies nicht genug wäre, werden seine Blätter von der zwischenzeitlich mächtig gewachsenen Krone der Feige beschattet und verdrängt.

So stirbt der Wirtsbaum einen langsamen Tod, der Jahre oder auch Jahrzehnte dauern kann. Unterdessen ist das Geflecht der Feige so stabil geworden, dass sie auch ohne Stütze durch den Wirtsbaum bestehen kann. Während der Wirtsbaum stirbt und verrottet, bleibt letztlich nur die hohle Würgefeige übrig.“

Mein zweites Beispiel ist der Sommerwurz. Auf den Seiten des Industrieverbands Agrar findet man die folgende Schilderung des Schadens, den dieses Pflanzen anrichten:

„Zu den Unkräutern, die sich aus den verschiedensten Nutzpflanzen mit Nährstoffen und Wasser bedienen, gehören auch die Sommerwurze. Es sind Parasiten oder Schmarotzer, die über kein Blattgrün verfügen, daher keine Photosynthese betreiben und vollständig von ihren Wirtspflanzen leben. Diese schwächen sie erheblich. Sommerwurze treten in Nordafrika und im Mittelmeerbereich als massive Plagen auf. Auch die ärmeren Länder in Asien leiden unter den wirtschaftlichen Folgen dieser Parasiten. In Mitteleuropa sind über 20 Sommerwurze bekannt, die auf bestimmte Wirtspflanzen spezialisiert sind, aber eher unauffällig bleiben, zum Beispiel die Ginster- oder Berberitzensommerwurz oder die Kleine Sommerwurz, bekannt als der Kleewürger Orobanche minor.

Die Sommerwurze (Orobanche) entwickeln sich unterirdisch. Sie lassen sich mit einem Speicherorgan auf den Wurzeln zweikeimblättriger Blütenpflanzen nieder. Diesen entziehen sie mit Saugorganen Nährstoffe und Wasser. Aus dem Speicherorgan wächst ein wachsartiger Stängel, der Blütenspross, der mit kleinen Schuppen bedeckt ist. Die Blüten, je nach Art blau, gelb oder bräunlich, sitzen in den Achseln dieser Schuppen. Die Samen sind winzig (0,3-0,5 mm). Ein Stängel kann 100 000 Samen hervorbringen, die mit dem Wind oder landwirtschaftlichen Geräten verbreitet werden.

In der Landwirtschaft sind unter anderem Sonnenblumen, Raps, Tomaten, Möhren, Ackerbohnen, Linsen, Kichererbsen, Klee, Tabak die Opfer der Sommerwurze.“

Ähnlich wie der Sommerwurz ist auch der Teufelszwirn ein Vollschmarotzer, der für erheblichen landwirtschaftlichen Schaden sorgt. Er ist eine Schlingpflanze und ist besonders im asiatischen Raum weit verbreitet. Er hat in China unter Sojabohnen schon große Ernteausfälle verursacht. Auch Tabak und Lein und viele andere Pflanzen werden durch ihn geschädigt. Eine Ausnahme ist die Tomate, die an den Stellen, an denen der Teufelszwirn sie anzapfen will, Abwehrreaktionen zeigt, so dass der Parasit auf ihr nicht überleben kann.

Auf den Seiten der Max-Planck-Gesellschaft erfährt man, dass der Teufelszwirn den Zeitpunkt seiner Blüte und Samenbildung genau so wählt, dass er seine Wirtspflanze maximal ausbeuten kann. Er fängt die Blühsignale seiner Wirtspflanze ab und synchronisiert seine Blüten auf diese Weise mit denen der Wirtspflanze. Würde der Teufelszwirn früher blühen, hätte er seiner Wirtspflanze weniger Nährstoffe entzogen und könnte weniger Blüten und Samen bilden. Würde er später blühen, könnte die Wirtspflanze nicht mehr genug Nährstoffe für die Samenbildung des Teufelszwirns liefern oder würde gar sterben, bevor dieser sich vermehren kann.

Viele von uns haben beim Lesen dieser Beschreibungen das spontane Empfinden, dass dies nicht „gut“ ist. Sind diese Phänomene in der Pflanzenwelt Kennzeichen einer „gefallenen Schöpfung“, und sehnt sich auch die Pflanzenwelt nach der Erlösung (Röm. 8,21+22)?

Oder ist unser Empfinden, dass die Überlebensstrategie der parasitären Pflanzen „grausam“ und „unfair“ sei, eine unzulässige Übertragung menschlicher Kategorien auf Lebewesen, die gar keinen Schmerz und kein Leid empfinden können? Sind diese Pflanzen vielmehr ein Ausdruck des schöpferischen Reichtums, mit dem Gott die Natur ausgestattet hat?

Wir könnten die Ernteschäden durch Sommerwurz und Teufelszwirn auch als eine Konsequenz unserer Ausbeutung der Natur sehen, denn in den Monokulturen unserer modernen Landwirtschaft können sich Schädlinge besonders gut vermehren. Doch dies ist zu vereinfachend gedacht, denn die ärmeren Länder sind vom Teufelszwirn besonders betroffen, obwohl sie die Landwirtschaft weniger intensiv und mit weniger Herbizideinsatz betreiben als wir.

Außerdem ist womöglich unser Eindruck falsch, dass die parasitären Pflanzen reine Schädlinge sind. Haben sie einen versteckten Nutzen im Ökosystem? Über den Teufelszwirn erfahren wir in einem weiteren Artikel auf den Seiten der Max-Planck-Gesellschaft, dass er die Nachricht über Insektenbefall an benachbarte Pflanzen übermittelt: „Der Teufelszwirn verbindet verschiedene Pflanzen über sein parasitisches Netzwerk. Wird eine vom Teufelszwirn bewachsene Pflanze von Insekten attackiert, werden auch in nicht-befallenen Nachbarpflanzen Verteidigungs-Gene aktiviert, die diese Pflanzen warnen und somit resistenter gegen ihre Fressfeinde machen.“ So raubt der Teufelszwirn seinem Wirt zwar Nährstoffe, andererseits schützt er ihn auch.

Selbst der Würgefeige lassen sich positive Seiten abgewinnen: Auf der oben zitierten Seite Faszination Regenwald lesen wir weiter unten:

„Obwohl Würgefeigen ihren Wirtsbaum zumeist ermorden, können sie doch nützlich für ihre Opfer sein. Bei heftigen Stürmen können große Würgefeigen ihre Wirtsbäume davor bewahren, entwurzelt zu werden. Mit ihren Luftwurzeln können sie sich sowohl an den umgebenden Bäumen als auch am Boden verankern. Dadurch kann der der Wirtsbaum stabilisiert und seine Bewegungen während des Sturms verringert werden. Außerdem können die Blätter der Würgefeigen Lücken im Kronendach schließen, wodurch die Angriffsfläche für den Wind verkleinert wird. Schließlich können die gerüstartigen Wurzelnetzwerke der Würgefeigen dazu beitragen, die Stämme ihrer Wirtsbäume zu unterstützen und zu stärken.“

Die starre Einteilung in nützliche und schädliche Pflanzen ist also viel zu einfach. Es gibt das gesamte Spektrum zwischen Symbiosen, die beiden Partnern gleichermaßen nützen, bis hin zu reinem Parasitismus. Und wenn man nicht nur auf den Interaktionspartner, sondern auf das gesamte Ökosystem schaut, können auch parasitäre Pflanzen nützliche Rollen spielen. Zum Beispiel dient die Frucht der Würgefeige vielen Tieren als Nahrung.

Pflanzen können übrigens nicht nur anderen Pflanzen schaden, sondern auch Tieren. Dornen und Giftstoffe dienen ja zur Abwehr von Pflanzenfressern. Im Extremfall können Pflanzen durch ihre Gifte Tiere auch töten. Doch Pflanzen töten Tiere nicht immer nur zur Abwehr, sondern ernähren sich auch manchmal von ihnen. Denn einige Pflanzen, die auf besonders nährstoffarmen Böden wachsen, bessern ihre Nährstoffzufuhr dadurch auf, dass sie Insekten einfangen und verdauen, wie z.B. der Sonnentau und die Venusfliegenfalle.

Damit ist das Repertoire an pflanzlicher Heimtücke keineswegs erschöpft. Um zu einer Bestäubung zu gelangen, täuschen insbesondere viele Orchideen paarungsbereiten männlichen Insekten durch ihre Blütenform und ihre Duftstoffe ein weibliches Insekt vor… Einerseits finde ich diesen „Betrug“ verwerflich, andererseits fasziniert mich der Ideenreichtum und die Vielfalt der Natur. Vielleicht ist es am klügsten, mit diesen Spannungen und Fragen zu leben, ohne sie mit vereinfachenden Erklärungen auflösen zu wollen...

 

Hinweis: Der eingangs erwähnte Vortrag von Stefan Schneckenburger ist die Grundlage eines Artikels, den man in Evangelium und Wissenschaft, 32. Jg. (2011) findet. Er trägt den Titel „Würgerfeige, Teufelszwirn und tote Babys. Botanische Aspekte des Theodizeeproblems“.

Die Frage nach Tod und Leid in der Natur wurde auch in den Blogbeiträgen vom 5.12.20 und 24.4.21 angesprochen.

Eine Liste aller bisherigen Blogeinträge befindet sich hier.

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