Karl Popper und die Falsifikation

Karl Popper ist einer der wenigen Wissenschaftsphilosophen, von denen fast jeder schon einmal gehört hat. Er hat das bekannte Prinzip formuliert, dass eine wissenschaftliche Hypothese falsifizierbar sein muss, sonst ist sie keine Wissenschaft. Es muss also grundsätzlich möglich sein, dass Messungen, Beobachtungen oder Entdeckungen eine wissenschaftliche Hypothese widerlegen können.

Ein Beispiel für eine nicht widerlegbare Hypothese ist die Aussage, Gott habe die Welt vor zwei Stunden geschaffen, inklusive all unserer Erinnerungen an eine vermeintliche Vergangenheit und aller sonstigen Spuren vergangener Prozesse. Verschwörungstheorien nehmen oft auch eine nicht widerlegbare Gestalt an. Die Vertreter der Verschwörungstheorie ordnen nämlich einfach alle Gegenbelege als von den Verschwörern fabriziert ein.

Das Falsifikationsprinzip ist eine gute Grundlage für meine alltägliche Forschung. In vielen meiner Projekte baue ich mathematische Modelle bzw. Modelle für Computersimulationen, mit deren Hilfe eine Hypothese getestet oder eine Frage beantwortet werden soll. In den vergangenen Jahren befassten wir uns z.B. viel mit der Frage, unter welchen Umständen die Ausbreitung von Spezies zwischen verschiedenen Habitaten (räumlichen Gebieten) dafür sorgen kann, dass Spezies in einer Region besser überleben können. Wir nehmen ein Computermodell für ein Nahrungsnetz und setzen dieses Nahrungsnetz auf mehrere Habitate, zwischen denen die Spezies sich ausbreiten. Wir lassen die Simulation bei verschiedenen Ausbreitungsraten laufen und werten aus, wie viele Spezies nach langer Zeit noch da sind. Daraus lesen wir ab, ob bei höherer Ausbreitungsrate mehr Spezies in der betrachteten Region überleben als bei niedrigerer Ausbreitungsrate. Dann haben wir eine Bestätigung oder Falsifikation der Hypothese, dass bessere Ausbreitungsmöglichkeiten das Überleben fördern – zumindest für dieses Modell.

Mehr Diskussionsstoff über das Falsifikationsprinzip gibt es, wenn man es auf größere Theoriegebäude anwendet. Manchmal wird das Falsifikationsprinzip so verstanden, dass ein einziges Gegenbeispiel ein ganzes wissenschaftliches Theoriegebäude zu Fall bringen kann. Als der Evolutionswissenschaftler J.B.S. Haldane einmal gefragt wurde, ob er sich irgendeine Entdeckung vorstellen kann, die die Evolutionstheorie widerlegen würde, antwortete er: „Kaninchenfossilien im Präkambrium“. Denn wenn man wirklich Kaninchen im Präkambrium (also in geologischen Schichten, die älter als ca. 550 Millionen Jahre sind) finden würde, wäre das im Widerspruch dazu, dass Säugetiere erst in der jüngeren Erdgeschichte entstanden sind.

Doch ist es wirklich so, dass ein einziges Gegenbeispiel eine wissenschaftliche Theorie umstürzen kann? (Was eine wissenschaftliche Theorie ist, habe ich am 15.5.2021 erklärt.) So einfach ist es leider nicht, wie die Geschichte der Naturwissenschaften uns zeigt. Als die Bahn des Planeten Uranus nicht genau den Newtonschen Gesetzen folgte, sondern Unregelmäßigkeiten aufwies, warf man nicht die Newtonsche Mechanik über Bord, sondern man suchte nach einer anderen Erklärung. Man folgerte, dass es einen weiteren Planeten geben muss, der die Bahn des Uranus stört. Man konnte sogar aus der Bahn des Uranus berechnen, wo dieser Planet zu finden sein müsste. Und genau dort wurde im Jahr 1846 der Planet Neptun entdeckt.

Ein weiteres Beispiel aus der Geschichte der Physik ist der radioaktive Beta-Zerfall. Bei diesem Zerfall gibt ein Atomkern ein Elektron oder Positron ab und wird damit zu einem anderen chemischen Element. Messungen der Energie des abgestrahlten Elektrons oder Positrons ergaben, dass die Gesamtenergiebilanz nicht stimmt: Die Energie des Ausgangsatoms (die in seiner Masse steckt) minus die Energie des Elektrons oder Positrons ergab nicht die Energie des Endatoms. War also der Energieerhaltungssatz der Physik falsch? Der Physiker Wolfgang Pauli machte einen anderen Vorschlag: Es muss ein sehr leichtes, nur ganz schwer nachzuweisendes Teilchen geben, das beim Beta-Zerfall ebenfalls entsteht und die fehlende Energie mit sich fortträgt. Er nannte dieses Teilchen Neutrino. Es dauerte 26 Jahre, bis man dieses Teilchen nachweisen konnte, weil es nur ganz selten eine Kernreaktion macht. Die meisten Neutrinos, die von der Sonne kommen, rasen ungehindert durch die gesamte Erde hindurch...

In all diesen Beispielen ist es verständlich, dass man zuerst nach alternativen Erklärungen sucht, bevor man eine jahrhundertelang bewährte und zigfach bestätigte Theorie umwirft. Und was würden die Wissenschaftler tun, wenn sie tatsächlich Kaninchenfossilien im Präkambrium finden würden? Dass dies passiert, ist freilich extrem unwahrscheinlich, denn die Zuordnung von Fossilien zu geologischen Schichten und ihre Datierung hat sich bisher in unzähligen Beobachtungen bestätigt. Daher würde man, wenn man gegen alle Erwartungen tatsächlich Kaninchenfossilien im Präkambrium finden würde, zunächst nach anderen Erklärungen suchen: Liegt ein Betrug vor? Interpretiert man die „Fossilien“ falsch? Ist das betreffende Gestein falsch datiert? Ist eine nachträgliche Kontamination mit jungen Fossilien möglich?

Der Wissenschaftsphilosoph Imre Lakatos spricht davon, dass man, statt eine gut bewährte Theorie zu verwerfen, zunächst einen „Schutzgürtel“ um sie baut, der die Anomalien durch Zusatzhypothesen erklärt. Wenn z.B. die Wurfbahn eines Steins nicht genau den Newtonschen Gesetzen folgt, führt man das auf die Luftreibung zurück. Man kann solche Hilfshypothesen auch testen und verfeinern, bis sie gut mit den Experimenten zusammenpassen. Im Fall der Wurfbahn von Steinen und anderen Objekten bedeutet das, dass man eine Theorie der Luftreibung entwickelt.

In der Kosmologie hat man auch Hilfshypothesen, z.B. die Dunkle Materie. Die Rotation von Galaxien und die Ablenkung von Lichtstrahlen an großen Galaxienclustern (der sogenannte Gravitationslinseneffekt) lässt sich nicht vollständig erklären, wenn es nur diejenige Materie gibt, die wir mit unseren Teleskopen sehen können. Statt die vielfach bewährte Allgemeine Relativitätstheorie zu verwerfen, postuliert man die Existenz von bisher nicht nachweisbarer Materie, die man „Dunkle Materie“ nennt. Sie ist bisher nur über ihre Gravitationswirkung spürbar. Wie mit der Reibung kann man auch mit der Dunklen Materie produktiv forschen, indem man sie in Computermodelle für die Entwicklung des Universums einbaut und feststellt, dass das Verteilungsmuster der Galaxien im Weltraum und ihre Formen gut reproduziert werden. Doch im Gegensatz zur Reibung weiß bisher niemand, was hinter der Dunklen Materie steckt. Einige Hypothesen darüber, was die Dunkle Materie sein könnte, wurden schon widerlegt, andere noch nicht. So dürfen wir gespannt sein, wie sich das Rätsel eines Tages auflösen wird.

Wenn sich allerdings die nicht zur Theorie passenden Entdeckungen, sogenannte „Anomalien“ häufen, sollte man darüber nachdenken, ob die Theorie nicht wirklich gravierende Fehler hat und zumindest ein Teil von ihr durch etwas Besseres ersetzt werden kann. Das Ernstnehmen von Anomalien hat schon mehrfach dazu geführt, dass neue wissenschaftliche Theorien entdeckt wurden. Einstein kam auf seine Spezielle Relativitätstheorie, indem er die Beobachtung ernst nahm, dass die Lichtgeschwindigkeit immer gleich ist, egal ob sich der Beobachter von der Lichtquelle wegbewegt oder auf sie zu. Diese Beobachtung stand im Widerspruch zu den Regeln der klassischen Mechanik, wie man Geschwindigkeiten addiert. Johannes Kepler kam auf die Ellipsenform der Planetenbahnen, indem er die Beobachtung ernstnahm, dass eine Überlagerung von Kreisbewegungen (die man damals als die „perfekte“ Art von Bewegung betrachtete) nicht genau mit den Messdaten der Planetenbewegung am Himmel zusammenpasste.

Eine neue Theorie, die eine alte ersetzen soll, muss natürlich besser sein als die alte. Sie sollte also nicht nur die Probleme der alten Theorie lösen, sondern auch erklären, warum die alte Theorie in vielerlei Hinsicht so erfolgreich war. Die Spezielle Relativitätstheorie macht beides: Sie löst das Rätsel der vom Beobachter unabhängigen Lichtgeschwindigkeit, erklärt aber gleichzeitig, warum die alte Regel der Geschwindigkeitsaddition im Alltag auf der Erde so gut funktioniert: Die Geschwindigkeiten von Objekten auf der Erde sind um Größenordnungen kleiner als die Lichtgeschwindigkeit, und in diesem Fall wird Einsteins Formel für die Geschwindigkeitsaddition nahezu identisch mit der bisherigen Formel. Auch die anderen Unterschiede zwischen der Newtonschen Mechanik und der relativistischen Mechanik sind vernachlässigbar, wenn alle Geschwindigkeiten um Größenordnungen kleiner als die Lichtgeschwindigkeit sind.

Nun hört man in christlichen Kreisen immer wieder mal die Behauptung, dass die geologischen Datierungen falsch seien. Man verweist dabei auf echte oder vermeintliche Rätsel wie den Fund von Dinosaurierfossilien mit noch erhaltenem Gewebe und erhaltenen Proteinen. Doch bevor man deswegen die geologische Datierung verwirft, sollte man innehalten. Es ist viel naheliegender, nach Mechanismen zu suchen die solche Gewebe und Strukturproteine stabilisieren können. Hierzu gibt es einige interessante Forschungsergebnisse.

Wer die gesamten geologischen Datierungen über den Haufen werfen will, muss eine alternative Datierungsmethode vorschlagen, die nicht nur ein Rätsel der etablierten Wissenschaft löst, sondern auch ihre bisherigen Erfolge erklärt. Und diese Erfolge sind absolut überwältigend, da es ja große Vielzahl von Datierungsmethoden und weiteren wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Erdgeschichte gibt, die alle zusammenpassen und ein kohärentes Gesamtbild ergeben. (Siehe auch den Blogbeitrag vom letzten Oktober zur langen Geschichte der Erde.) Und natürlich muss eine solche alternative Datierungsmethode überprüfbar sein. Denn wie zu Beginn dieses Blogbeitrags beschrieben, zeichnet sich eine ernstzunehmende naturwissenschaftliche Hypothese dadurch aus, dass sie durch Messungen oder Beobachtungen im Prinzip widerlegbar ist. Der Junge-Erde-Kreationismus bietet keine alternative Datierungsmethode, die die genannten Kriterien erfüllt. Wissenschaftsphilosophen ordnen ihn deshalb zu Recht nicht als Wissenschaft, sondern als Pseudowissenschaft ein.

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