Die Rolle von Viren in der Schöpfung

COVID-19, AIDS, Vogelgrippe, Ebola, spanische Grippe – diese und viele andere gefährliche Krankheiten werden durch Viren ausgelöst. Wenn wir von einer besseren Welt träumen dürften, wäre das doch bestimmt eine Welt ohne Viren – oder?

Leider ist das nicht so einfach. Die erwähnten Krankheitsviren sind nur ein verschwindender Teil der riesigen Vielfalt von Viren, die es in der Natur gibt. Die meisten von ihnen scheinen keine sichtbaren Krankheitssymptome hervorzurufen. Man schätzt, dass es weit mehr als 100 Millionen Virenarten gibt, die Tiere befallen, und unzählige weitere Viren für Pflanzen und Bakterien. Anhand der wenigen Viren, die bisher erforscht wurden, wissen wir, dass Viren auf vielfältige Art einzelne Organismen und ganze Ökosysteme beeinflussen. Alles Leben scheint von ihnen abhängig zu sein. Im Erdboden und sogar im Ozean wimmelt es von Viren. Jeder Milliliter Tiefseewasser enthält drei Millionen Viren, und jeder Milliliter Küstenwasser enthält 100 Millionen Viren. Einige Viren sind sogar ein Teil von uns geworden, da sie sich in unser Erbgut integriert haben. Acht Prozent unserer DNA sind solches Virenerbgut, und darunter sind Gene, die inzwischen für uns unentbehrlich geworden sind: Eines dieser von Viren importierten Gene kodiert das Protein Syncytin, das die Verschmelzung von Zellen ermöglicht. Während der Schwangerschaft wird dieses Protein in der Plazenta produziert und spielt eine wichtige Rolle bei der Ausbildung der Grenzschicht zwischen Mutter und Kind.

Viren bestehen praktisch nur aus Erbgut, das in eine Kapsel aus Protein gepackt ist. Um sich zu vermehren, benötigen sie einen Wirt, in dessen Zellen sie eindringen. Die Vervielfältigungs- und Proteinsynthesemaschinerie dieser Zellen wird vom Virus dafür missbraucht, um das Virenerbgut zu vervielfältigen und die Kapselproteine zu erzeugen. Kapselproteine und Virenerbgut verbinden sich genau an den richtigen Stellen so, dass sie sich zu neuen Viren zusammensetzen. Irgendwann sind diese neuen Viren so zahlreich, dass sie die Wirtszellen sprengen. Wenn eines dieser Viren auf eine weitere Zelle trifft, beginnt der Zyklus von vorne.

Alle Organismen haben Waffen, um sich gegen Viren zu wehren. Wir Menschen haben die angeborene und die adaptive Immunantwort. Die angeborene Immunantwort erfolgt innerhalb weniger Stunden. Wenn eine Zelle eindringende Viren entdeckt, sondert sie Interferone ab, die in der Umgebung verschiedene Abwehrmechanismen stimulieren. Da diese Abwehrmechanismen unspezifisch sind, richten sie, wenn sie überschießen, auch Schaden im körpereigenen Gewebe an, wie wir bei schweren COVID-19-Verläufen sehen. Die adaptive Immunantwort ist nach ungefähr einer Woche soweit, dass die B- und T-Zellen das eingedrungene Virus ganz spezifisch angreifen können. Um die richtigen Rezeptoren zu finden, machen die betreffenden Gene einen sehr schnellen Suchprozess durch, bei dem immer neue Mutationen und Kombinationen durchprobiert werden. Das adaptive Immunsystem hat ein Gedächtnis für schon einmal erzeugte Rezeptoren und kann bei einer zweiten Infektion mit demselben Virus sehr schnell reagieren.

Auf der anderen Seite versucht das Virus, dem Immunsystem des Wirts dadurch zu entkommen, dass es mutiert und - wenn verschiedene Viren dieselbe Zelle befallen - das mitgebrachte Erbgut neu kombiniert. Durch das Kombinieren des Erbguts verschiedener Influenzaviren entstehen z.B. immer wieder einmal gefährliche neue Varianten von Influenzaviren. Einige Virenarten können vorübergehend in ein Ruhestadium eintreten, während dessen sie zwar in der Wirtszelle sind, aber sich nicht vermehren; die sogenannten Retroviren können sich dabei sogar in das Erbgut des Wirts integrieren, wie z.B. HIV. Viren können sich auch tarnen, indem sie an ihrer Oberfläche Proteine haben, die denen des Wirts ähnlich sind.

Weil Viren an ihre jeweiligen Wirte angepasst sind, ist ein Wirtswechsel kein häufiges Ereignis. In einem neuen Wirt müssen Viren sich etwas anders tarnen und mit etwas anderen Oberflächenmolekülen die Wirtszelle dazu bringen, sie einzulassen. Coronaviren haben ihren Ursprung in Fledermäusen. Zu den Menschen kamen sie nicht auf direktem Weg, sondern über einen weiteren Wirt, an den sich die Coronaviren zunächst anpassten und der mehr Kontakt mit den Menschen hat. Bei MERS-CoV war das Kamel der Zwischenwirt, bei SARS-CoV die Zibetkatze und bei SARS-CoV-2 vermutlich der Pangolin. Die diversen Influenzaviren sind u.a. über Wasservögel, Geflügel und Schweine auf den Menschen übergegangen.

Viren spielen eine kaum zu überschätzende Rolle in Ökosystemen. Sie ändern das Verhalten von Individuen, führen zu anderen Geburts- und Sterberaten und beeinflussen dadurch die Interaktionen zwischen Räubern und Beuten. Damit verändert sich auch das Ausmaß an Konkurrenz zwischen Spezies und die Verfügbarkeit verschiedener Nahrungsquellen. Ganze Ökosysteme können sich dadurch ändern, dass eine Spezies von einem Virus befallen wird oder von einem Virus befreit wird. Nachdem in der Serengeti die Rinderpest ausgerottet wurde, nahm die Zahl der Gnus zu, und die Savanne wurde stärker abgegrast. Dadurch konnten sich Feuer schlechter ausbreiten, wodurch mehr Bäume wachsen konnten.

Viren, die Pflanzen befallen, benötigen ein Transportmittel, durch das sie von einer Pflanze zur nächsten transportiert werden. Manche Pflanzenviren breiten sich über Pollen oder Samen auf die nächste Pflanze aus (die in diesem Fall ein Nachkomme der vorigen Pflanze ist), doch am häufigsten dienen Insekten als Transportmittel. Um auf diesen Zwischenwirt überzugehen, verändern manche Viren die Eigenschaften ihrer Wirtspflanze so, dass sie für diese Insekten attraktiver wird und/oder andere Insekten abstößt. Manche Viren veranlassen ihre Wirtspflanze sogar dazu, Chemikalien zu produzieren, die das Verhalten der Insekten, die die Pflanze fressen, so verändert, dass sie das Virus besser übertragen.

Im Ozean sorgen Viren dafür, dass Bakterienzellen aufgebrochen werden und die Nährstoffe für neues Bakterien- und Algenwachstum zur Verfügung stehen. Dadurch wird mehr Kohlendioxid im Ozean gebunden, was wiederum für das Klima wichtig ist. Man vermutet, dass Viren im Boden eine ähnlich wichtige Rolle wie im Wasser spielen. Auch im Boden sind Bakterien diejenigen Spezies, die am stärksten von Viren befallen werden. Infektion mit Viren verändert z.B. die Fähigkeit von Bakterien, organische Moleküle abzubauen.

Dadurch, dass Viren in Zellen eindringen und sich in ihnen vermehren, können sie auch Erbgut aus den Zellen in das ihre integrieren und beim Verlassen der Zelle mitnehmen. Auf diese Weise transportieren sie es in andere Zellen, wo es wiederum in das Wirtserbgut integriert werden kann. Man nennt den Transport von Erbgut zwischen verschiedenen Organismen „horizontalen Gentransfer“. Insbesondere im Ozean kann auf diese Weise ein weitgespannter genetischer Austausch zwischen Mikroorganismen stattfinden. Die Bedeutung dieses Gentransfers für Evolution ist noch kaum erforscht, kann aber erahnt werden.

Die schon erwähnten Retroviren, die sich sogar vollständig in das Wirtserbgut integrieren, spielen noch auf andere Weise eine wichtige Rolle in der Evolution: Wenn sie in der Nähe von Genen sitzen, können sie beeinflussen, unter welchen Umständen diese Gene exprimiert werden, d.h. unter welchen Umständen die Proteine, die von diesen Genen kodiert werden, erzeugt werden. Da Retroviren sich im Erbgut vervielfältigen können, können sie in der Nähe mehrere verschiedener Gene sitzen. Dies hat zur Folge, dass sie die gleichzeitige Expression mehrerer Gene beeinflussen können. Auf diese Weise können sich Genregulationsnetzwerke ausbilden und verändern.

Über die ursprüngliche Entstehung von Viren kann man bisher nur spekulieren. Da die Viren sich in ihrer Größe, ihrem Aufbau und dem Umfang und der Art ihres Erbguts stark unterscheiden, ist es auch denkbar, dass verschiedene Gruppen von Viren einen verschiedenen Ursprung haben. Die drei Hypothesen, die es über den Ursprung von Viren gibt, sind (a) das Entstehen aus transponierbaren genetischen Elementen (s. Blogeintrag vom 9.1. über „Menschen und Schimpansen“), die sich verselbständigt haben; (b) das Entstehen aus Bakterien, die immer mehr Bestandteile verloren haben; (c) das Entstehen aus frei vorkommender RNA aus der Frühphase des Lebens auf der Erde.

Was bedeuten all diese Erkenntnisse für unsere Sicht auf Gottes Schöpfung? Wir können Viren nicht einfach als „Böse“ oder „Gut“ einordnen. Einige Virenarten verursachen viel Leid, und daher setzen wir alles daran, ihre Ausbreitung einzudämmen. Aber die Viren in ihrer Gesamtheit sind ein untrennbarer Bestandteil unserer Welt, ohne den sie vielleicht gar nicht funktionieren könnte. Alle Interaktionen in Ökosystemen sind von ihnen beeinflusst. Dadurch, dass sie genetisches Material zwischen verschiedenen Spezies transferieren, spielen sie eine wichtige Rolle in der Evolution. Manche Viren sind sogar inzwischen ein unentbehrlicher Teil von uns geworden, wie das oben erwähnte Gen für Syncytin. All dies legt die Folgerung nahe, dass Viren ein integraler Bestandteil der Schöpfung sind. Es scheint so zu sein wie bei der Plattentektonik und dem Wetter, die beide im Blogbeitrag vom 5.12. („Tod und Leid in der Natur“) erwähnt wurden: Ohne sie würde das Leben nicht funktionieren, aber sie haben auch schädliche Auswirkungen. Wir Menschen stehen daher vor der Herausforderung, die schädlichen Auswirkungen von Viren zu bekämpfen, aber dabei verantwortungsvoll mit unserer komplexen ökologischen Umwelt umzugehen.

Literatur und andere Quellen: Die Hauptanregung für diesen Text kommt aus einem (englischsprachigen) Vortrag der Oxforder Virologin Mirjam Schilling, der hier zu finden ist. Ein Interview mit ihr in deutscher Sprache erschien im Mai 2020 im Medienmagazin pro. Die Rolle von Viren in Ökosystemen wird in diesem englischsprachigen Fachartikel ausführlich besprochen.

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