Wer oder was hat mich geheilt?
Vor wenigen Wochen habe ich mich bei meinem Arbeitgeber, der TU Darmstadt, wieder gesund gemeldet – nach 21 Monaten Krankschreibung. Ich bin zwar noch längst nicht so leistungsfähig wie vor der Erkrankung an Long Covid und benötige regelmäßige Ruhepausen, aber ich kann wieder arbeiten und am Leben teilhaben. Fast 15 Monate lang war ich durch die Krankheit so stark eingeschränkt, dass ich nicht Fahrrad fahren und nicht weit gehen konnte. Auch das Stehen war anstrengend, so dass ich das Zähneputzen und Waschen immer im Sitzen machte. Ich war bis auf Taxifahrten zu Ärzten oder zum Friseur weitgehend an die Wohnung gebunden. Mein Mann machte fast den gesamten Haushalt. Zeitenweise konnte ich noch nicht einmal zum Essen in die Küche kommen und dort auf dem Hocker sitzen. Auch der Weg vom Sofa ins Bad war dann so anstrengend, dass ich ihn so selten wie möglich machte. (Ich berichtete im Januar vergangenen Jahres von der ersten Zeit meiner Erkrankung.) Zweimal war ich im Krankenhaus. Ich fühlte mich wie Sisyphos in der griechischen Mythologie, dem der Stein, den er den Berg hinaufrollen soll, immer wieder entkommt, so dass er wieder unten anfangen muss: Mehrfach ging es gesundheitlich bergauf und ich hoffte, aus der Krankheit herauszukommen, doch dann gab es wieder einen Rückschlag. Ich entwickelte im Laufe der Zeit immer mehr Ängste, was die Genesung zusätzlich erschwerte.
Erst die Reha Ende 2023 brachte eine endgültige Wende. Seitdem ging es, wenn auch sehr langsam und in Wellen, bergauf. Ich konnte nach und nach die Aktivität aufbauen. Jedesmal, wenn ich zum ersten Mal seit der Erkrankung etwas wieder machen konnte, war das für mich ein kleines Fest: Der erste Spaziergang in die Streuobstwiesen; der erste Gottesdienstbesuch; das erste Mal wieder in meinem Büro; der erste Besuch bei Verwandten; das erste Mal ein kurzer Sprint auf dem Fahrrad, um eine grüne Ampel noch zu erwischen; das erste Mal wieder ein Computerprogramm schreiben; das erste Mal wieder schwimmen; …
Woran liegt es, dass es mir jetzt endlich wieder besser geht? An der Begleitung durch die Ärztin und die Psychologin des Long-Covid-Instituts in Online-Sprechstunden? An den Medikamenten, die die Histaminausschüttung eindämmen? An der Ermutigung durch das Hören von Genesungsgeschichten? Am Erlernen eines gesunden Rhythmus von Aktivität und Entspannungspausen durch das Reactive-Programm? Am Einüben des Wahrnehmens meiner Gefühle und des Hörens auf sie? An der Möglichkeit, in der Reha in einem sicheren Umfeld neue Dinge zu wagen und körperlich aktiver zu werden? An der sehr einfühlsamen Begleitung durch den Psychiater auf der Reha? An weiteren Dingen die ich schon vor der Reha monatelang regelmäßig machte (diverse Nahrungsergänzungsmittel, Physiotherapie zuhause, Psychotherapie und Selbsthilfegruppe via Internet, …)? Ich denke, dass es nicht eines dieser Dinge allein war, sondern das Gesamtpaket, das mich voran gebracht hat. Es scheint, dass bei dieser Krankheit oft ein ganzheitlicher Ansatz, der Körper, Nervensystem und Psyche einbezieht, nötig ist.
Das war die ‚natürliche‘ Beschreibungsebene meines Genesungsprozesses. Es gibt aber auch die ‚geistliche‘ Beschreibungsebene: Sollte ich die Heilung statt auf die ‚natürlichen‘ Dinge nicht vielmehr auf die Gebete vieler lieber Menschen aus meinem näheren und weiteren Umfeld zurückführen? Es hat mich sehr berührt, dass selbst Menschen, die mich kaum oder gar nicht kennen, für mich gebetet haben. Verschiedene Personen schenkten mir Verheißungen aus der Bibel. Diese Bibelstellen sprechen alle von Wiederherstellung, und manche davon enthalten auch einen Verweis auf Geduld. Ich nahm diese Verse als Zusagen Gottes und hielt sie ihm immer wieder im Gebet vor. Ich erinnerte ihn auch an die vielen Gebete, die für mich gesprochen werden.
Hat also Gott mich geheilt, oder waren es die medizinischen und psychologischen Maßnahmen? Diese Frage ist falsch gestellt. Die Antwort lautet: „Beides“. Die ‚natürlichen‘ Dinge waren die Hilfsmittel, die Gott benutze, um mir Heilung zu bringen. Das ist ähnlich wie bei der Frage nach der Schöpfung, die im vorigen Blogbeitrag thematisiert wurde: Gott und die natürlichen Prozesse sind nicht einander ausschließende, sondern einander ergänzende Erklärungsebenen. Ich habe mir zwar öfters eine wundersame, plötzliche Heilung gewünscht, doch ein langsamer, wachstümlicher Prozess, bei dem ich viel lernen musste bzw. durfte, hat seine Vorteile: Gott hat mir nach und nach Mittel an die Hand gegeben, um die Dinge zu tun, die meine Genesung voranbringen. Wir Menschen sind meist nicht passive Empfänger von Gottes Taten, sondern er möchte unsere Mitarbeit. Ich musste und muss weiterhin lernen, die Signale meines Körpers wahrzunehmen und richtig darauf zu reagieren. Ich durfte und werde auch weiterhin die Hilfe von Ärzten, Therapeuten etc. in Anspruch nehmen. Gott hat die Menschen befähigt, Zusammenhänge zu erkennen, medizinische Forschung anzustellen und Medikamente und Heilverfahren zu entwickeln.
Doch all diese ‚natürlichen‘ Dinge funktionieren nicht automatisch. Sie geben keine Garantie auf Erfolg. Längst nicht alle Long-Covid-Patienten werden gesund (aber sehr viele), und bei verschiedenen Personen wirken verschiedene Dinge. Die Genesung bleibt immer ein Geschenk Gottes, das nicht vollständig unter unserer Kontrolle ist. So bin ich Gott unendlich dankbar, dass ich soweit genesen durfte, wie es inzwischen der Fall ist.
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