Was der Vater des Urknalls über Glaube und Wissenschaft sagte

Die Idee, dass das Universum einen Anfang hat und zunächst ganz klein und dicht war, wurde zuerst von dem belgischen Priester und Physiker Georges Lemaȋtre (1894 -1966) vorgeschlagen. Ich habe in meinem Blogbeitrag zum Urknall erzählt, dass diese Idee zunächst vehement von der Mehrheit der Wissenschaftler abgelehnt wurde, weil dies zu sehr nach einem Schöpfungsprozess klingt. Man unterstellte Lemaȋtre eine religiöse Motivation für seine Theorie. Doch dieser Vorwurf ist unberechtigt, denn Lemaȋtre wusste zwischen Glauben und Wissenschaft zu unterscheiden, im Gegensatz zu einigen seiner Gegner, die offensichtlich von ihrer atheistischen Überzeugung motiviert waren. Es gibt nicht viele Äußerungen von Lemaȋtre dazu, wie er das Verhältnis von Glaube und Wissenschaft sah, doch kürzlich stieß ich auf einen interessanten Artikel zu diesem Thema. Lemaȋtre beschloss schon im Alter von 9 Jahren, ein Wissenschaftler und ein Priester zu werden: „Es gab zwei Wege, die Wahrheit zu erkennen. Ich beschloss, beide gleichzeitig zu verfolgen.“ Er schloss sein Studium der Mathematik und Physik im Jahr 1920 ab, und im Jahr 1923 wurde er zum Priester ordiniert. Seitdem trug er immer seine Priesterkleider. Nach Forschungsaufenthalten in Cambridge, Toronto, Harvard und MIT übernahm er 1925 eine Professur an der Katholischen Universität Löwen in Belgien. In den Folgejahren entwickelte er seine Theorien zum Urknall und der Expansion des Universums. Im Jahr 1936 hielt er einen Vortrag auf einem katholischen Kongress in Mecheln (in der Nähe von Brüssel) zum Verhältnis von Glaube und Wissenschaft. Da dieser Vortrag viele wertvolle Gedanken enthält, übersetze ich ihn im Folgenden (mit ein paar Auslassungen). Das französische Original ist hier zu finden.

Die Suche nach Wahrheit ist die höchste menschliche Beschäftigung. Wir unterscheiden uns von den Tieren durch die Vernunft, und wir beschäftigen uns damit, die Wahrheit in jeder Form zu erfassen.

Die übernatürliche Wahrheit wurde uns durch Christus und seine Kirche vermittelt. Wir hätten sie niemals herausfinden können, wenn sie nicht zu uns herabgekommen wäre. Im Gegensatz dazu ist die natürliche Wahrheit genau den Fähigkeiten unseres Intellekts angepasst. Es ist die Aufgabe der Menschen, die Schöpfung, die sie umgibt und zu der sie gehören, zu verstehen und wertzuschätzen. Sie staunen darüber, dass sie die Materie, die sie umgibt, geistig erfassen können, und erkennen darin einen Abglanz der göttlichen Intelligenz.

Auch wenn die Naturwissenschaft die höchste menschliche Beschäftigung ist, ist sie nicht die wichtigste und erhält deshalb nicht den hohen Stellenwert, den sie im alltäglichen Leben haben sollte. Der Mensch ist auch ein Tier, und die dringenden Bedürfnisse seines Körpers nehmen ihn oft vollständig in Anspruch. Und der Mensch ist auch ein Kind Gottes, in dem die göttliche Gnade sich unabhängig von seiner intellektuellen Entwicklung entfalten kann.

Die wissenschaftliche Forschung bleibt einer Elite vorbehalten, die sich nicht um die alltäglichen Dinge zu kümmern braucht. Sie haben ein herausforderndes, hochspezialisiertes Studium absolviert und bauen auf einem reichen Erbe auf, das andere angesammelt haben und das sie nun in Laboren, Observatorien u.s.w. verwenden, um gemeinschaftlich das Ziel der Menschheit zu erreichen: die Eroberung der Wahrheit.

Diese Prinzipien werden manchmal vergessen, und entweder übertreibt man, indem man die Wissenschaft als die einzig wichtige Sache darstellt, oder man macht das Gegenteil und gibt angesichts der vielen andere menschlichen Werte der wissenschaftlichen Betätigung nicht den Stellenwert, den sie verdient.

Diese Prinzipien bestimmen das Verhältnis, das Wissenschaft und Religion haben sollten, und wir müssen ihre Konsequenzen untersuchen.

Viele loyale Leute werden von der Kirche entfremdet, weil sie den Eindruck bekommen, dass die Kirche die Suche nach natürlicher Wahrheit verachtet und dass in ihrer Lehre keine Begeisterung für die Auseinandersetzung mit der Wissenschaft zu erkennen ist.

Die Schönheit der wissenschaftlichen Erkenntnisse aus Mathematik, Physik, Botanik etc. muss deutlich und umfassend vermittelt werden. Dies gehört untrennbar zu dem Humanismus, zu dem unsere [kirchlichen] Schulen sich bekennen. Und wenn wir über momentane Grenzen der Wissenschaft reden, müssen wir uns davor hüten, Misstrauen oder Verachtung zu zeigen. Wir sollten bei aller notwendigen Kritik maßvoll sein und erwarten, dass der Fortschritt der Wissenschaft unseren Erkenntnishorizont erweitern wird, so wie er das bisher getan hat.

Die Theologen sind zum Teil selbst verantwortlich dafür, dass Wissenschaft und Glaube fälschlicherweise als Gegensätze angesehen werden. Wenn ein scheinbarer Konflikt aufkommt zwischen einer traditionellen kirchlichen Lehre und einer neuen Hypothese, die zunehmend durch Fakten erhärtet wird, bleiben sie so lange untätig, bis die Hypothese fast endgültig bewiesen ist. Stattdessen sollten sie gewissenhaft genau diejenigen Punkte ihrer Lehre untersuchen, die für den Konflikt verantwortlich sind, und unter der Leitung der zuständigen Autoritäten herausarbeiten, was der nichtverhandelbare offenbarte Gehalt ist. In jedem Fall wird es die wissenschaftliche Gemeinschaft begrüßen, wenn sie überlegt und höflich bleiben, was auch die bessere Form der Verteidigung ist.

Schließlich und vor allem müssen wir uns davor hüten, in die Falle von zweit- und drittklassigen Populärwissenschaftlern zu tappen, die die Religion angreifen im Namen dessen, was sie meinen, von der Wissenschaft verstanden zu haben.

Zu allen Zeiten hat die Kirche ihre Wertschätzung der Wissenschaft dadurch gezeigt, dass sie Universitäten und Schulen gegründet hat. Eine altehrwürdige Institution wie unsere angesehene Universität von Löwen ist ein lebendiges Zeugnis für die frühere und gegenwärtige Unterstützung wissenschaftlicher Forschung durch die Kirche; und selbst wenn einige der wissenschaftlichen Einrichtungen, die durch die Kirche in der Vergangenheit in der ganzen christlichen Welt gegründet wurden, mit der Zeit unabhängig oder gar der Kirche gegenüber feindlich wurden, können sie dennoch ihren kirchlichen Ursprung nicht vollständig leugnen.

Die Kirche hat kein Monopol auf das Lehren der Wissenschaft. Sie hat keine Einwände, wenn neben ihr weltliche wissenschaftliche Aktivität betrieben wird. Sie möchte loyal und ihren Möglichkeiten entsprechend ihren Beitrag zur gemeinsamen Aufgabe der Menschheit leisten. Es ist nicht wichtig, ob die Kirche hierbei alles oder überhaupt viel leistet, Sie sollte aber das, was sie macht, gut machen.

[...]

Wissenschaft muss nicht nur unterrichtet, sondern auch praktiziert werden, und es bringt der Kirche Ruhm ein, wenn ihre Gläubigen achtenswerte Beiträge zur aktuellen Entwicklung der Wissenschaft leisten.

[…]

Wie soll ein christlicher Forscher seine religiösen Überzeugungen mit den fachspezifischen Anforderungen seines Forschungsgebiets unter einen Hut bringen? Ebenso wie auf vielen anderen Gebieten sollte er in der Mitte zwischen zwei Extremen bleiben. Das eine besteht darin, diese beiden Bereiche seines Lebens wie zwei sorgfältig voneinander isolierte Schrankfächer zu behandeln, aus denen er je nach Situation entweder seine Wissenschaft oder seinen Glauben hervorholt. Im anderen Extrem vermischt und verwirrt er unüberlegt und tollkühn das, was voneinander zu trennen ist.

Der christliche Forscher sollte die geeigneten Methoden für sein Forschungsthema beherrschen und geschickt anwenden können. Seine Forschungsmethoden sind dieselben wie die seines ungläubigen Kollegen. Das gilt auch für die Freiheit seines Denkens, aber nur wenn seine Vorstellung über religiöse Wahrheiten zu seiner wissenschaftlichen Ausbildung passt. Er weiß, dass alles Geschaffene von Gott gemacht ist, aber er weiß auch, dass Gott nirgendwo den Platz eines seiner Geschöpfe einnimmt. Das allgegenwärtige Handeln Gottes ist allseits weitestgehend verborgen. Es ist völlig undenkbar, dass das höchste Wesen auf die Stufe einer wissenschaftlichen Hypothese reduziert werden kann. Die göttliche Offenbarung hat uns niemals das gezeigt, was wir selbst herausfinden können, zumindest wenn diese natürlichen Wahrheiten für das Verstehen der übernatürlichen nicht nötig waren. Der christliche Forscher kann deshalb befreit vorgehen in dem Vertrauen darauf, dass seine Forschung keinen echten Konflikt mit seinem Glauben hervorbringen kann.

Er hat seinem ungläubigen Kollegen sogar etwas voraus: Beide bemühen sich darum, die einander vielfältig überdeckenden und miteinander vermischten Spuren der verschiedenen Epochen der langen Entwicklungsgeschichte der Welt zu entziffern. Aber der Gläubige hat den Vorteil, dass er weiß, dass das Rätsel eine Lösung hat, dass die zugrundeliegende Logik letztlich das Werk eines intelligenten Wesens ist. Das Problem, vor das die Natur uns stellt, wurde gestellt, damit wir es lösen, und seine Schwierigkeit ist unseren menschlichen Fähigkeiten angemessen, wenn nicht heute, dann morgen. Dieses Wissen liefert ihm zwar keine neuen Erkenntnisquellen, aber sie verhilft ihm zu einem gesunden Optimismus, ohne den man kein langes Forschungsprojekt durchhält.

In gewisser Weise legt der Forscher seinen Glauben in der Forschung beiseite, nicht weil er ihn behindern würde, sondern weil er nicht unmittelbar relevant für seine Forschung ist. Ein Christ geht, läuft und schwimmt ja auch nicht anders als ein Ungläubiger.

Aber der christliche Forscher weiß, dass sein Glaube sowohl seinen höchsten als auch seinen persönlichsten Aktivitäten eine übernatürliche Dimension verleiht. Er bleibt Gottes Kind, wenn er durch das Mikroskop schaut, und in seinen morgendlichen Gebeten stellt er alle seine täglichen Aktivitäten unter den Schutz seines himmlischen Vaters. Wenn er über die Wahrheiten des Glaubens nachdenkt, ist ihm bewusst, dass seine Kenntnisse über Mikroben, Atome oder Sterne ihm niemals helfen oder ihn daran hindern, sich an das unzugängliche Licht zu halten, und dass er ebenso wie alle Mitmenschen das Herz eines Kindes erwerben muss, um in das Himmelreich zu kommen.

So verbinden sich Glaube und Vernunft im menschlichen Handeln, ohne dass sie unangemessen miteinander vermischt werden oder dass es einen vermeintlichen Konflikt gibt.

Auch wenn Lemaȋtre bei dem „christlichen Forscher“ wohl nur Männer vor Augen hatte, stelle ich mir bei seiner Rede die vielfältige Schar von Frauen und Männern vor, die ich aus meinem Beruf kenne...

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