Des Kaisers neue Kleider

Vor einigen Jahren hielt ein bekannter Professor einen Vortrag über seine Quantentheorie des Universums im Physik-Kolloquium der TU Darmstadt. Je länger der Vortrag dauerte, desto mehr fühlte ich mich wie im Märchen „Des Kaisers neue Kleider“: Der Vortragende sprach von der „Wellenfunktion des Universums“, deren Zeitentwicklung deterministisch abläuft. Doch weder die Existenz dieser Wellenfunktion, noch die deterministische Zeitentwicklung ist durch Beobachtung belegbar. Im Gegenteil: Diese mathematische Beschreibung des Universums passt überhaupt nicht zu dem, wie wir das Universum tatsächlich wahrnehmen, nämlich als ein Universum, dessen Entwicklung kreative und unvorhersehbare Facetten hat. Im letzten Blogbeitrag habe ich argumentiert, dass schon ein Messgerät oder eine Katze nicht durch eine Wellenfunktion beschrieben werden kann. Für das Universum als Ganzes ist dies erst recht völlig unmöglich. Um seine Gleichungen mit der Beobachtung in Beziehung zu setzen, griff der Vortragende auf die Viele-Welten-Interpretation der Quantenmechanik zurück. (Diese habe ich ebenfalls im letzten Blogbeitrag erklärt.) Als in der anschließenden Fragenrunde niemand außer mir die Grundannahmen des Vortragenden hinterfragte, fühlte ich mich als Außenseiterin.

Wie kommt es dazu, dass ein Teil der Physiker so sehr auf ihre Theorien vertrauen, dass sie Schlussfolgerungen akzeptieren, die jedem nicht mit dieser Theorie vertrauten Menschen verrückt vorkommen, weil sie nicht mit der Realität zusammenpassen? Mir scheint, dass wir Menschen einen Hang dazu haben, Ideen und Theorien, die offensichtliche Erfolge vorweisen können (und die Quantenmechanik hat sehr beeindruckende Erfolge vorzuweisen!), absolut zu setzen und auch dort anzuwenden, wo ihre Anwendung Widersinniges ergibt. Dabei fühlen wir uns vielleicht auch noch besonders schlau, weil nur Insider überhaupt den Überlegungen folgen können. Diese Haltung ist mir nicht nur in der Physik begegnet, sondern auch in anderen Lebensbereichen.

In manchen Gottesdiensten habe ich mich ähnlich gefühlt wie im oben erwähnten Kolloquiums-Vortrag. Ab und zu kommt es vor, dass eine Person, die predigt oder den Gottesdienst moderiert, durchblicken lässt, dass sie nicht an ein Erdalter von Milliarden von Jahren glaubt oder daran, dass Tiere gestorben sind, bevor es Menschen gab. Dabei haben Geologen schon vor mehr als 200 Jahren aus den Gesteinsschichten herausgelesen, dass die Erde eine lange Geschichte hat, in deren Verlauf viele Spezies gekommen und wieder gegangen sind, bevor es den Menschen gab. Die naturwissenschaftliche Entwicklung der letzten 200 Jahre hat diese Einsichten bestätigt und vertieft. (Ich habe vor ungefähr zwei Jahren darüber berichtet.) Trotz all diesem wohl etablierten Wissen an einer jungen Erde festzuhalten, ist für mich ähnlich unsinnig, wie an die Wellenfunktion des Universums zu glauben. Was treibt einen Teil der Christen dazu, unhaltbare Auffassungen zu vertreten? Hierzu gäbe es viel zu erzählen, unter anderem, dass es in Deutschland eine durch Spenden in großem Umfang finanzierte Organisation gibt, die durch ihre Schriften und Vorträge über Jahrzehnte hinweg den Kreationismus verbreitet hat. Doch auch dies wäre nicht möglich, wenn die Menschen nicht dafür empfänglich wären. Mir scheint, dass die Situation hier ähnlich ist wie bei den erwähnten Physikern: Man wendet eine bewährte Erkenntnis weit über ihren Gültigkeitsbereich hinaus an und akzeptiert sogar absurde Schlussfolgerungen. Im Falle der für den Kreationismus empfänglichen Christen ist dies die Erkenntnis, dass die Botschaft der Bibel glaubwürdig ist und Kraft für ein neues Leben gibt. Sie haben von beeindruckenden Bekehrungserlebnissen und Glaubenserfahrungen gehört oder sie sogar selbst erlebt. Deshalb sind sie bereit, allem zu vertrauen, was scheinbar ebenfalls eine Botschaft der Bibel ist. Mit mehr Erfahrung und Wissen werden sie später hoffentlich zentrale und gut begründete Glaubensinhalte von schlecht begründeten Aussagen unterscheiden können.

Es gibt noch ein drittes Themengebiet, bei dem ich immer wieder an das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern denken muss, nämlich die Neurowissenschaften. Einige bekannte Neurowissenschaftler vertreten die Auffassung, dass die Prozesse in unserem Gehirn und unsere Entscheidungen durch physikalische Gesetze vollständig bestimmt werden. Man nennt diese Auffassung den Neurodeterminismus. Demnach sind unsere mentalen Zustände (also das, was wir denken, fühlen und entscheiden) vollständig durch die neuronalen Zustände (also die Aktivität unserer Gehirnzellen) bestimmt, und diese widerum sind durch die vorangegangenen neuronalen Zustände, verbunden mit den Signalen, die von außen über die Sinne hereinkommen, festgelegt. Unsere subjektive Wahrnehmung, dass wir entscheidende und handelnde Wesen sind, ist demnach eine Illusion.

Diese Auffassung widerlegt sich m.E. selbst: Wenn unsere Gedanken und vermeintlichen Einsichten vollständig durch physikalische Ketten von Ursache und Wirkung festgelegt wären, könnten wir ihnen keinen Wahrheitsgehalt zusprechen. Denn das Kennzeichen von echten Erkenntnissen ist, dass sie durch den betrachteten Gegenstand und die Gesetze der Logik bestimmt werden und gerade nicht durch physikalische Vorgänge. So wie in den vorigen beiden Beispielen werden auch im Neurodeterminismus erfolgreiche Konzepte jenseits ihres Gültigkeitsbereichs angewendet. Dies ist zum einen die Erkenntnis, dass neuronale und mentale Prozesse untrennbar verbunden sind, und zum anderen die Beschreibung von Vorgängen in der Natur durch physikalische Gesetze. Doch die Verbindung neuronaler und mentaler Prozesse muss keineswegs bedeuten, dass die Kausalketten ausschließlich auf der neuronalen Ebene verlaufen und die mentalen Prozesse somit festlegen. Die Gesetze der Physik wurden nicht dazu geschaffen, um uns vollständig zu bestimmen, sondern um unser Denken überhaupt erst möglich zu machen. Die Gesetze der Physik bilden die Basis dafür, dass sich komplexe Gehirne ausbilden können, die die „Hardware“ für unser Denken und unser Bewusstsein sein können, ähnlich wie die Hardware eines Computers ausreichend komplex ist, dass jede Art von Rechnung auf ihm durchgeführt werden kann. Aber die Gesetze der Physik legen nicht das Ergebnis unserer Denkprozesse fest.

Was haben die drei genannten Theorien (Viele-Welten-Theorie, Kreationismus, Neurodeterminismus) gemein, dass ich und viele andere Menschen sie so vehement ablehnen? Sie verstoßen m.E. gegen Grundprinzipien, die Leben, Denken und Forschen erst möglich machen: die Existenz einer objektiven, vom Betrachter unabhängigen Realität; unsere Fähigkeit, durch wissenschaftliche Forschung zu gültigen Einsichten zu gelangen; unsere Identität als denkende und handelnde Wesen. Der christliche Glaube bietet m.E. eine gute Grundlage für diese drei Dinge. Die objektive Realität geht auf Gott als Schöpfer zurück, und unsere Fähigkeiten zu forschen, zu denken und zu handeln sind Teil unserer Gottesebenbildlichkeit.

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