Kann man Glauben wissenschaftlich erklären?

Die Wissenschaft macht auch vor der Religiosität des Menschen nicht halt. Sie denkt darüber nach, wie der Glaube an Gott und an übernatürliche Mächte in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit entstanden ist und wie die Religiosität in unseren Genen und unserem Gehirn verankert ist. Sie sucht also nach ‚natürlichen‘ Ursachen dafür, dass wir eine starke Neigung zum Glauben haben.

Manche Forscher meinen, dass das Finden von solchen natürlichen Ursachen den Glauben widerlegt. Denn wenn herauskommt, dass unsere Neigung zum Glauben im Gehirn verdrahtet ist, dann können wir ja kaum anders als zu glauben. Glaube resultiert dann nicht aus einer nüchternen Analyse des Wahrheitsgehalts von Glaubensaussagen, sondern aus Umständen, die uns oft nicht bewusst sind und nicht von uns kontrolliert werden können. Sobald wir das erkennen, sollten wir laut diesen Forschern die Konsequenzen daraus ziehen und den Glauben durch rationale Erkenntnisse ersetzen.

Die Entstehung der Religiosität in der Entwicklungsgeschichte des Menschen erklärt man gerne damit, dass sie einen Überlebensvorteil brachte. Die einen argumentieren, dass Religiosität deshalb das Überleben fördert, weil sie soziales Verhalten verlangt, z.B. dass man Kranken und Schwachen hilft. Gemeinschaften, die sich sozial verhalten, sind stabiler und haben eine höhere Chance, in Zukunft zu überleben.

Andere argumentieren, dass Religiosität ein Nebenprodukt der menschlichen Fähigkeit ist, hinter natürlichen Phänomenen ein handelndes Wesen zu vermuten. In einer Umgebung, in der es gefährliche Tiere gibt, überlebt man besser, wenn man hinter Geräuschen und Bewegungen ein Tier vermutet und nicht eine unbelebte Ursache. Unser Hang, hinter natürlichem Geschehen handelnde Wesen zu vermuten, führte schließlich zum Glauben an Gott.

Eine kritische Diskussion dieser Thesen möchte ich auf einen späteren Blogbeitrag verschieben. Heute möchte ich der Frage nachgehen, was es für den Glauben bedeutet, wenn man unsere Neigung zum Glauben wissenschaftlich erklären kann. Denn selbst diejenigen Wissenschaftler, die die genannten Thesen bezweifeln, meinen, dass die Forschung natürliche Erklärungen für die Religiosität finden kann, da sie Bestandteil unserer kognitiven und kulturellen Entwicklungsgeschichte ist.

Wir erliegen oft dem Fehlschluss, dass wissenschaftliche und religiöse Erklärungen einander ausschließen. Doch die Kirchengeschichte hat eine lange Tradition, wissenschaftliche und theologische Erklärungen als gegenseitige Ergänzung zu betrachten. Der große mittelalterliche Theologe Thomas von Aquin (1225-1274) unterschied zwischen Erst- und Zweitursachen. Gott ist die primäre Ursache für alles, was geschieht. Die natürlichen Abläufe sind die Zweitursachen, die Gott etabliert hat, damit sie seinen Willen umsetzen. Sie existieren also nicht eigenständig, sondern gehen auf Gott zurück. Wenn wir das auf unser Thema anwenden, bedeutet es, dass Gott den ganzen Entwicklungsprozess der Menschheit so angelegt hat, dass die Menschen natürlicher Weise dahin kommen, dass sie an ihn glauben.

Das Entstehen von Religiosität wird nicht nur anhand der Geschichte der Menschheit erforscht, sondern auch bei der Entwicklung eines einzelnen Menschen vom Baby zum Erwachsenenalter. Auch da sieht man, dass wir Menschen einen natürlichen Hang zum Glauben haben. Fünfjährige Kinder sind ganz intuitiv Theisten, wie in diesem Artikel aus dem Jahr 2003 berichtet wird. Sie glauben, dass Gott die Dinge in der Natur geschaffen hat.

Diese Veranlagung zum Glauben muss sich in unserem Gehirn widerspiegeln. Wir Menschen sind ja eine untrennbare Einheit von Körper und Geist. Jede Regung unseres Geistes wird von elektrischer und chemischer Aktivität im Gehirn begleitet. Wenn wir beten, meditieren oder eine mystische Erfahrung machen, geht das mit spezifischen Aktivitätsmustern in unserem Gehirn einher. Solche Glaubenserfahrungen können so intensiv sein, dass sie uns realer erscheinen als alles andere, was wir bis dahin erlebt haben.

Die wissenschaftliche Untersuchung der Gehirnaktivität, die mit Glaubenserfahrungen einhergeht, stellt keineswegs die Bedeutung oder die Realität dieser Erfahrungen in Frage. Sie tut dies genauso wenig, wie die Erforschung der Entwicklungsgeschichte menschlicher Religiosität die Existenz Gottes in Frage stellt.

Doch die Erforschung des Zusammenhangs zwischen Gehirn und Glauben wirft eine andere spannende Frage auf: Können wir Einfluss auf unsren Glauben nehmen, wenn er doch in unserem Gehirn eingeprägt ist? Ist er nicht vielmehr etwas, das über uns kommt und das wir nicht beeinflussen können? Dies stimmt nur zum Teil, denn unser Gehirn ist plastisch. Alles, was wir lernen und erleben, wirkt sich auf die Struktur unseres Gehirns und auf die Vernetzung unserer Neuronen (Gehirnzellen) aus. Wenn sich unser Glaube ändert, ändert sich etwas in unserem Gehirn. Und weil sich unser Gehirn verändert, verändert sich auch die Art und Weise, wie wir die Welt um uns herum wahrnehmen.

Das bedeutet, dass wir unseren Glauben durch unser Verhalten beeinflussen können. Wenn wir unsre Aufmerksamkeit intensiv auf etwas richten, z.B. beim Meditieren, ändert sich unsere Wahrnehmung, und das Geglaubte erscheint uns realer. Gewohnheiten und Rituale prägen sich in unserem Körper und Gehirn ein und bringen uns ebenfalls die Glaubensinhalte näher. Unser Körper und unsere Emotionen sind immer beteiligt bei dem, was wir tun und was uns prägt. Wir sind keine rein geistigen Wesen. Deshalb ist es wichtig, den Körper und die Emotionen einzubeziehen, wenn wir bestimmte Vorstellungen tief in uns verankern wollen. Der wöchentliche Gottesdienst, Feiern von Taufe und Abendmahl und regelmäßige Gebetszeiten helfen uns, den Glauben zu vertiefen.

Manipulieren wir uns selbst, wenn wir Dinge tun, die unseren Glauben beeinflussen? Nein, denn jede Situation, der wir uns aussetzen, beeinflusst und verändert uns. In diesem Sinne können wir es gar nicht vermeiden, unsere eigene Entwicklung zu beeinflussen. Es ist also gar nicht möglich, uns nicht zu ‚manipulieren‘, doch wir stehen in der Verantwortung zu entscheiden, in welche Richtung wir uns verändern wollen und welchen Einflüssen wir uns aussetzen. Ich als sehr verkopfte Person, die nicht nur die Wissenschaft, sondern auch den Glauben gerne rational angeht, brauche diese Erinnerung, dass die nicht rationalen Elemente des Lebens und Glaubens einen starken Einfluss auf mich haben...

Hinweise:

Vieles in diesem Blogbeitrag basiert auf einem Vortrag von Sarah Lane Ritchie, den ich im vergangenen Sommer hörte. Dr. Ritchie ist an der Universität von Edinburgh Dozentin für Theologie und Naturwissenschaften.

Dieses Thema wirft viele weitere wichtige Fragen auf, die in diesem Blogbeitrag gar nicht berührt werden: In welchem Maß muss unsere natürliche Veranlagung zum Glauben durch Gottes Offenbarung ergänzt oder korrigiert werden? Wie verhalten sich die verschiedenen Religionen zueinander, und wie steht es um ihren Wahrheitsgehalt?

Eine Liste aller bisherigen Blogeinträge findet sich hier.

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