Ist Religion durch Evolution entstanden?

Für die Entstehung von Religion wurden schon viele Erklärungen vorgebracht. Vor hundert Jahren verbreitete sich die Auffassung, Träume seien die frühesten spirituellen Erfahrungen. Denn Schlafen und Träumen ist ein anderer Bewusstseinszustand und wird auch heute noch in einigen Gesellschaften als Tor zu einer anderen Welt betrachtet.

Sigmund Freud hatte eine psychoanalytische Erklärung und meinte, dass Religion auf einen Mord zurückgeht: Ein Stammespatriarch wurde von seinen geplagten Söhnen umgebracht. Um ihr Gewissen zu besänftigen, machten sie ihn hinterher zum Gott.

Einige halten Totemismus für die Urform von Religion: Beim Totemismus glaubt man an eine Verbindung oder Verwandtschaft zwischen Menschen und bestimmten Tieren oder Pflanzen oder Gegenständen, den sogenannten Totems. Daher sind Totems Teil der Identität dieser Menschen und dürfen nicht beschädigt werden. So soll die Idee, dass etwas ‚heilig‘ ist, entstanden sein.

Am weitesten verbreitet ist die Auffassung, dass Animismus die erste Form von Religion war. Animismus ist der Glaube, dass lebende Wesen und unbelebte Objekte beseelt sind, also zielgerichtet handeln und das Leben der Menschen beeinflussen können. Der Animismus entstand gemäß dieser Auffassung als ein Nebenprodukt der menschlichen Fähigkeit, hinter bestimmten Bewegungen und Geräuschen ein gefährliches Tier zu vermuten. Er ist bei Jägern und Sammlern verbreitet. Vom Animismus scheint der Weg zum Glauben an Geister und übernatürliche Wesen nicht weit.

Hinter all diesen Ideen steckt die Vorstellung, dass Religion eine lange Entwicklungsgeschichte hat, von einfachen Vorstufen hin zu den heutigen Religionen. Diese Vorstellung wir oft zusammen mit einem umfassenden evolutionären Weltbild kommuniziert, gemäß dem die gesamte Entwicklung der Menschheit und ihrer Kultur und Religion allein durch natürliche Ursachen geschehen ist.

Doch was wissen wir wirklich über die Entwicklung der menschlichen Religiosität, und wie glaubwürdig sind die skizzierten einfachen Theorien? Diesen Fragen geht der (kürzlich verstorbene) Verhaltensbiologe und langjährige Referent für Weltanschauungsfragen Hansjörg Hemminger in seinen Buch „Evolutionary Processes in the Natural History of Religion“ nach, über das ich neulich eine Rezension verfasst habe. Hemminger räumt in diesem Buch mit vielen vereinfachten Sichtweisen und falschen Vorstellungen auf. Einige seiner Punkte fasse ich im Folgenden zusammen:

  • Eine umfassende evolutionäre Weltsicht geht weit über das hinaus, was man streng wissenschaftlich belegen kann. Sie ist eine sehr vereinfachende Darstellung, die mit vielen populären Erzählungen angereichert wird. Diese Erzählungen klingen zwar oft sehr einleuchtend, doch man findet hierzu bei Experten einander widersprechende Meinungen.

  • Die obigen einfachen Thesen über die Entstehung von Religion sind großteils aus heutiger Sicht unplausibel: Die Auffassung von Freud und passt nicht zu unserem ethnologischen Wissen. Träume sind als Ursprung der Religion unplausibel, weil sie ihre spirituelle Bedeutung erst durch die Religion bekommen und nicht umgekehrt. Sie sind auch nur eine von vielen Erfahrungen, die religiös interpretiert werden. Und gegen Totemismus als Urform der Religion spricht, dass heutiger Totemismus fast immer ein Bestandteil von komplexen und voneinander sehr verschiedenen religiösen Sytemen ist. Am plausibelsten ist der Animismus als frühe Religionsform, da er unter indigenen Völkern weit verbreitet ist. Doch auch hier können wir nicht sicher sein. Nicht alle heutigen Jäger und Sammler praktizieren den Animismus.

  • Viele plausibel klingende Erklärungen über die Evolution von Religion beruhen auf der Annahme, dass unsere altsteinzeitlichen Vorfahren ganz anders tickten als heutige Menschen. Doch in den letzten 20000 Jahren hat sich das menschliche Gehirn nicht verändert, und wahrscheinlich nicht einmal in den letzten 70000 Jahren. Warum sollen unsere Vorfahren unsichtbare Agenten hinter Pflanzen und Steinen etc. vermutet haben, wenn sogar kleine Kinder nicht darauf hereinfallen? Schon Fünfjährige können zwischen erfundenen und realen Wesen unterscheiden. Um Religion zu verstehen, sollten wir unsere eigenen Anlagen und Erfahrungen und die unserer Zeitgenossen einbeziehen.

  • Wir wissen fast nichts über die Religiosität der prähistorischen Menschen, denn wir haben nur sehr wenige prähistorische Funde, aus denen wir etwas darüber lernen können. Die prähistorischen Figuren, Höhlenzeichnungen und Gräber lassen sich vielfältig interpretieren. Eine Reihenfolge der Schritte, wie Religion sich entwickelt hat, lässt sich daraus nicht rekonstruieren. Wir sollten uns daher eher an heutigen Jägern und Sammlern orientieren, um eine Vorstellung über die Glaubenswelt der prähistorischen Menschen zu bekommen. Denn die heutigen Jäger und Sammler sind mit den damaligen anatomisch und biologisch identisch. Einige Jäger und Sammler unserer Tage überraschen uns damit, dass angeblich ‚primitive‘ Formen der Religion bei ihnen gar nicht vorkommen, sondern dass die angeblich ‚fortgeschrittene‘ Vorstellung von einem persönlichen Schöpfer und Erhalter der Welt eine wichtige Rolle spielt.

  • Oft wird die Evolution von Religiosität analog zu biologischer Evolution gesehen. Man meint daher, dass die verschiedenen Elemente von Religion oder Kultur jeweils einen Überlebensvorteil mit sich brachten. Deshalb hätten sie sich in einem darwinschen Selektionsprozess durchgesetzt. Doch diese Vorstellung ist unhaltbar. Religiosität ist ein Teil der Kultur, und diese entwickelt sich als Ganzes. Einzelne Elemente können nicht unabhängig von den anderen selektiert werden.

  • Wer die Entstehung der menschlichen Religiosität als einen neodarwinistischen Evolutionsprozess betrachtet, muss nicht nur über Selektion nachdenken, sondern auch über Mutationen und die Mechanismen, wie diese an die nächste Generation weitergegeben werden. Hier gibt es zwei mögliche Denkrichtungen: Man kann die Idee verfolgen, dass Religiosität in den Genen verankert ist und folglich durch genetische Mutation entstanden ist und sich weiterentwickelt. Dies ist allerdings abwegig, da die menschliche Kultur sich sehr viel schneller entwickelt als das menschliche Erbgut und zum großen Teil unabhängig von biologischer Evolution verläuft. Daher kann man alternativ vermuten, dass die menschliche Religiosität und noch allgemeiner die menschliche Kultur sich nicht biologisch, aber in Analogie zur biologischen Evolution entwickelt. Die Einheiten, die sich verändern und weitergegeben werden, sind also nicht Gene, sondern Ideen und verschiedene andere Elemente der Kultur und des Glaubens.

  • Doch auch die Analogie zwischen kultureller und biologischer Evolution ist unzutreffend. Sowohl kulturelle Evolution, als auch biologische Evolution sind sehr viel komplexer als ein einfacher Mutations- und Selektionsprozess. Wenn man beide Entwicklungsprozesse im Detail betrachtet, gibt es gravierende Unterschiede: Die menschliche Kultur hat keine sich selbst replizierenden Bausteine und nichts, was mit dem Ei- und Samenzellenstadium der biologischen Fortpflanzung vergleichbar ist. Die Sozialisierung eines Individuums ist viel weniger eingeschränkt als die biologische Embryonalentwicklung. Kulturelle und religiöse Innovationen sind viel freier als biologische Mutationen. Sie geschehen sogar oft planvoll und beabsichtigt, und hier können einzelne Individuen einen großen Einfluss haben. Man könnte diese Aufzählung noch lange fortführen.

  • Statt einer einfachen, reduktionistischen Sicht ist eine vielschichtige, ganzheitliche Sicht nötig: Die Entwicklung der menschlichen Religiosität ist ein untrennbarer Bestandteil der allgemeinen kulturellen Entwicklung der Menschheit, die mit einer Modernisierung des Denkens und Verhaltens insgesamt einhergeht. Zu dieser Modernisierung gehören Sprache, Symbolgebrauch, die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, Kooperation und komplexe soziale Strukturen. Verschiedene Beschreibungsebenen sind nötig, um diese Entwicklung wissenschaftlich zu erfassen, denn genetische, physiologische, kognitive, individuelle, soziale und ökologische Aspekte hängen alle miteinander kausal zusammen.

Die Antwort auf die im Titel gestellt Frage hängt also davon ab, was man unter „Evolution“ versteht. Die meisten Vorstellungen über „Evolution“ passen nicht auf die Entwicklung von Kultur und Religion. Dass Religion und Kultur sich entwickelt haben, lässt sich allerdings nicht abstreiten. Wenn wir Menschen tierische Vorfahren hatten, die keine Kultur und keine Religion hatten, muss beides entwicklungsmäßig entstanden sein. Als Christin bin ich davon überzeugt, dass diese Entwicklung Teil von Gottes schaffendem Handeln war. Er hat diesen Prozess so angelegt, dass wir Menschen fähig wurden, über den Sinn des Lebens, über Moral und über das Leben nach dem Tod nachzudenken und uns auf die Suche nach Gott zu machen.

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