Ist der Glaube nur Wunschdenken?

Beruht der Glaube an ein Leben nach dem Tod auf Wunschdenken? Glaube ich nur deshalb an einen persönlichen Gott, weil mein Sicherheitsbedürfnis dies verlangt?

In Diskussionen der vergangenen Monate begegneten mir öfters Einwände dieser Art. Was würden Sie darauf antworten? Es gibt eine Reihe von Gegenargumenten.

  1. Der Vorwurf des Wunschdenkens kann gegen jede Art von Glauben oder Unglauben erhoben werden. Auch eine atheistische Einstellung kann Wunschdenken sein, z.B. wenn man nicht möchte, dass es einen Gott gibt, der Rechenschaft für unser Tun verlangt. Der Philosoph Thomas Nagel gibt seinen Wunsch, dass es keinen Gott gibt, offen zu: Ich will, dass Atheismus wahr ist, und es verunsichert mich, dass einige der intelligentesten und am besten informierten Leute, die ich kenne, gläubig sind. Es ist nicht nur der Fall, dass ich nicht an Gott glaube und natürlich hoffe, dass ich mit diesem Glauben Recht habe. Es ist vielmehr so, dass ich hoffe, dass es keinen Gott gibt. Ich will nicht, dass es einen Gott gibt; ich will nicht, dass die Welt so ist. Man darf den Vorwurf des Wunschdenkens also nicht nur gegen eine bestimmte Art von Glauben richten.

  2. Wir alle stehen in der Versuchung, das für wahr zu halten, was wir uns wünschen. Deshalb sind wir verpflichtet, uns zu prüfen, was die Motive und Gründe für unseren Glauben sind. Ist er fundiert? Hält er kritischen Anfragen stand? Dies gilt für unsere von Wunschdenken redenden Gesprächspartner ebenso wie für uns. Als ich auf der Suche nach dem Sinn des Lebens war, wollte ich nicht einfach irgendetwas glauben, das meinen Wünschen entsprach. Ich wollte mich nur dann auf den christlichen Glauben einlassen, wenn es gute Gründe für ihn gibt. Denn nur, was wahr ist, ist auch dauerhaft tragfähig. Ein nur auf Wunschdenken beruhender Glaube wird die Stürme des Lebens nicht überstehen.

  3. Dass wir einen Wunsch oder eine Sehnsucht nach etwas verspüren, z.B. nach ewigem Leben, ist an sich kein Argument dagegen. Im Gegenteil, große Denker der Vergangenheit und Gegenwart argumentieren, dass Bedürfnisse, z.B. nach Liebe oder Nahrung, normalerweise auf etwas hinweisen, das es tatsächlich gibt. Ebenso kann die Sehnsucht nach Ewigkeit darauf hinweisen, dass wir für die Ewigkeit angelegt sind. Der bekannteste Vertreter dieses Arguments ist C.S. Lewis. Es gibt sogar eine Wikipedia-Eintrag zu diesem Thema.

  4. Der Wunsch, dass es ein ewiges Leben oder einen persönlichen Gott gibt (oder keines von beidem), ist noch weit entfernt von einem ausgereiften Glauben. Das Fürwahrhalten einzelner Aussagen reicht nicht als Basis für einen Glauben im Sinn eines religiösen Glaubens oder einer umfassenden Weltanschauung. Religionen und Weltanschauungen beinhalten eine Lehre darüber, was die letzte Realität ist, woher wir kommen und wohin wir gehen. Sie enthalten auch ethische Normen und Rituale. Das Judentum und das Christentum berufen sich außerdem auf historische Ereignisse, in denen Gott sich offenbart hat. Es sind also viel mehr Bausteine für einen Glauben nötig als ein paar Wunschträume. Um dies weiter auszuführen, werde ich mich im Folgenden auf den christlichen Glauben beschränken.

  5. Ein von Wunschdenken erfundener Glaube wäre anders als der christliche Glaube. Der Gott des Christentums ist nicht nur lieb und barmherzig, wie es ein Wunschgott vielleicht wäre. Er hat dunkle Seiten, da er auch als Urheber von Leid und Gericht angesehen wird. Ein gewisses Maß an Gericht, insbesondere die Bestrafung übler Missetäter, ist zwar Teil des Wunschdenkens vieler Menschen, doch ein Gericht für alle, selbst die relativ guten Menschen, ist es nicht. Auch die biblische Lehre, dass niemand allein durch gute Taten vor Gott bestehen kann, sondern dass jeder die Erlösung durch Jesus braucht, widerspricht unserer Erwartung. Ebenso ist die Dreieinigkeit Gottes keine Idee, die man einfach mal erfindet. Sie ist vielmehr das Ergebnis eines langen Verarbeitungs- und Reflexionsprozesses all dessen, was die frühen Christen erlebt und überliefert bekommen haben. Der christliche Glaube ist daher kein Wunschdenken-Glaube. Das bedeutet freilich nicht, dass Christen frei von Wunschdenken sind. Die Versuchung, sich einzelne Elemente des Glaubens so zurechtzubiegen, wie man sie haben möchte, besteht immer, z.B. wenn Gott dafür zu sorgen hat, dass wir gesund sind und genügend Geld haben. Solchen falschen Einstellungen entgegenzuwirken, ist eine der Aufgaben der christlichen Lehre, z.B. in Predigten.

  6. Das bringt uns zu der Frage, auf welche Grundlage der christliche Glaube steht. Die Schreiber der Evangelien und der Briefe des Neuen Testaments erwähnen wiederholt, dass das, was sie über das Leben und Sterben Jesu mitteilen, zuverlässig ist, weil sie es selbst erlebt haben oder diejenigen persönlich kennen, die es erlebt haben. Dies gilt insbesondere für das Ereignis, das den christlichen Glauben ausgelöst hat: die Auferstehung Jesu von den Toten. Der Apostel Paulus schreibt in einem Brief an die Christen in Korinth im Jahr 53 oder 54, dass es Augenzeugen gibt, die noch leben:„Zuerst habe ich euch weitergegeben, was ich selbst empfangen habe: Christus ist für unsere Sünden gestorben. Das ist das Wichtigste, und so steht es schon in der Heiligen Schrift. Er wurde begraben und am dritten Tag vom Tod auferweckt, wie es in der Heiligen Schrift vorausgesagt ist. Er hat sich zuerst Petrus gezeigt und später allen aus dem engsten Kreis der Jünger. Dann haben ihn mehr als fünfhundert Brüder und Schwestern zur gleichen Zeit gesehen, von denen die meisten heute noch leben; einige sind inzwischen gestorben. Später ist er Jakobus und schließlich allen Aposteln erschienen. Zuletzt hat er sich auch mir gezeigt, der ich es am wenigsten verdient hatte.“ (1. Kor. 15,3-8; nach der Übersetzung ‚Hoffnung für alle‘). Auch der Schreiber des Lukas-Evangeliums ist von der Zuverlässigkeit der Botschaft von Jesus überzeugt. Er beginnt mit diesen Worten: „Schon viele haben versucht, all das aufzuschreiben, was Gott unter uns getan hat, so wie es uns die Augenzeugen berichtet haben, die von Anfang an dabei waren. Ihnen hat Gott den Auftrag gegeben, die rettende Botschaft weiterzusagen. Auch ich habe mich entschlossen, allem von Anfang an sorgfältig nachzugehen und es für dich, verehrter Theophilus, der Reihe nach aufzuschreiben. So wirst du feststellen, dass alles, was man dich gelehrt hat, zuverlässig und wahr ist.“ (Luk.1,1-4, Hoffnung für alle).

  7. Es gibt weltweit sehr viele Christen, die am Glauben an Jesus festhalten, obwohl sie dafür diskriminiert, verfolgt, oder gar getötet werden. Nur wer zutiefst überzeugt ist von dem, was er glaubt, hält auch dann daran fest, wenn es ihn viel kostet.

  8. Es gibt andere Theorien darüber, wie Religionen entstehen, als die Wunschdenken-These. Viel diskutiert werden evolutionäre Erklärungen. Bei diesen Erklärungen bringen Religionen entweder an sich einen Überlebensvorteil (z.B. weil das Androhen von Strafe kooperatives Verhalten fördert), oder sie sind das Nebenprodukt von etwas, das einen Überlebensvorteil bringt (z.B. von unserer Fähigkeit, hinter Ereignissen die Absicht eines handelnden Wesens zu erkennen). Diese zweite Art der Erklärung wird von der Kognitiven Religionswissenschaft verfolgt.

Für diese Theorien gilt dasselbe wie für das Wunschdenken: Eine Erklärung darüber, wie ein Glaube entstanden ist, sagt noch nichts über den Wahrheitsgehalt des Glaubens aus. Wer aus einer Theorie über die Entstehung eines Glaubens folgert, dass dieser Glaube nicht wahr ist, begeht den sogenannten genetischen Fehlschluss. Eine weitergehende Diskussion dieser Theorien hebe ich für zukünftige Blogbeiträge auf.

Eine Liste aller bisherigen Blogeinträge befindet sich hier.

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