Kann man wissenschaftlich nachweisen, dass Gott Gebete erhört?

Im Jahr 2006 wurde das Ergebnis des bisher größten wissenschaftlichen Experiments über die Wirkung von Fürbittegebet veröffentlicht. Im Laufe von drei Jahren nahmen 1800 Herzpatienten, die eine koronare Bypass-Operation bekamen, an dieser Studie teil. Drei Gebetsgruppen, zwei davon katholisch und eine protestantisch, erhielten täglich Listen mit Vornamen und Anfangsbuchstaben der Nachnamen von Patienten, deren Operation am nächsten Tag anstand. Sie beteten 14 Tage lang für diese Patienten, insbesondere für eine erfolgreiche Operation und eine komplikationslose Genesung. Die Beter wurden während dieser 14 Tage nicht über den Zustand ihrer Patienten informiert. Einem Drittel der Patienten wurde gesagt, dass für sie gebetet wird; den anderen wurde gesagt, dass es sein kann, dass für sie gebetet wird, wobei die Hälfte dieser Patienten per Zufallsauswahl auf die Gebetslisten gesetzt wurden. Komplikationen, die in den ersten 30 Tagen nach der Operation auftraten, wurden in der Studie ausgewertet. Das Ergebnis der Studie war, dass das Fürbittegebet der Gebetsgruppen die Häufigkeit von Komplikationen nicht vermindert hat. Bei den Patienten, die nicht wussten, ob für sie gebetet wurde, traten bei denen, für die gebetet wurde, in 52 Prozent der Fälle, und bei denen, für die nicht gebetet wurde, in 51 Prozent der Fälle Komplikationen auf. Im Rahmen der statistischen Schwankungen sind diese Zahlen identisch. Bei denen, die wussten, dass für sie gebetet wurde, traten sogar in 59 Prozent der Fälle Komplikationen auf, wobei der Unterschied hauptsächlich auf eine bestimmte Komplikation, nämlich Herzflimmern, zurückgeht. Die Autoren schreiben, dass sie keine einfache Erkärung für die deutlich höhere dritte Prozentzahl haben. Man kann vermuten, dass verschiedene Zufallsfaktoren wohl dafür verantwortlich sind, darunter auch die unterschiedlichen Häufigkeiten von Komplikationen in den sechs beteiligten Kliniken. Oder dass die Patienten, die wussten, dass für sie gebetet wurde, deswegen unter einen höheren Erwartungsdruck standen. Man lernt hieraus, wie wichtig es ist, dass in medizinischen Studien alle Patienten exakt das gleiche Wissen über ihre Behandlung haben, wenn die Ergebnisse aussagekräftig sein sollen. Den Originalartikel zu dieser Studie habe ich hier gefunden.

Es gibt eine Reihe anderer Studien über die Auswirkung von Fürbittegebet. Einige von ihnen zeigen einen Effekt von Gebet, andere nicht. Bei der Mehrzahl dieser anderen Studien werden Mängel in der Datenerhebung oder der Datenauswertung kritisiert, z.B. wenn das Pflegepersonal wusste, für wen gebetet wurde, oder wenn die Kriterien, anhand derer eine Wirkung erkannt werden soll, nicht vor Beginn der Studie festgelegt waren.

Für viele Menschen sind diese Studien ein Beleg dafür, dass es keinen Gott gibt, oder dass er, wenn es ihn gibt, Gebete nicht erhört. Die Autoren der beschriebenen Studie ziehen allerdings nicht diese Schlussfolgerung, da es viele weitere Erklärungsmöglichkeiten gibt. Die meisten Patienten hatten auch Freunde und Angehörige, die für sie beteten, und viele Patienten beteten auch selbst. Angesichts dieser vielen anderen, deutlich persönlicheren Gebete kann man, wenn überhaupt, nur einen kleinen Effekt des Gebets der zusätzlichen Gebetsgruppen erwarten, aber solch kleine Effekte gehen in den statistischen Schwankungen unter.

Von christlicher Seite gibt es verschiedene Reaktionen auf die Gebetsexperimente. Die einen stützen sich auf diejenigen Studien, die einen Effekt von Gebet entdeckt haben, und verwenden sie als Beleg dafür, dass Gott auf Gebete reagiert. Die anderen argumentieren, dass solche Studien grundsätzlich nicht dafür geeignet sind zu belegen (oder zu widerlegen), dass Gott Gebete erhört. Diesen zweiten Standpunkt vertritt auch der christliche Schriftsteller und Apologet C.S. Lewis. In seinem Aufsatz „Die Wirksamkeit des Gebets“ (aus dem Buch „Was der Laie blökt“) aus dem Jahr 1959 reagiert er recht entsetzt auf die Idee, Gebetserperimente durchzuführen, bei denen man für die Patienten in einem Krankenhaus betet und in einem anderen nicht. „Man kann nicht um Genesung der Kranken beten, außer es gehe einem um ihre Genesung. Einen Beweggrund dafür, zu wünschen, alle Patienten in einem Spital sollten geheilt werden und in einem andern keine, kann man nicht haben. Man täte es nicht, um Leiden zu erleichtern, sondern um herauszufinden, was dabei geschieht. Die wahre Absicht des Gebets wäre von der angeblichen verschieden. Mit anderen Worten, was immer Zunge, Zähne und Knie tun mögen, Gebet ist es nicht. Das Experiment verlangt etwas Unmögliches“. (S.134)

Außer diesem Argument von C.S. Lewis werden von christlicher Seite noch weitere Gründe angeführt, warum das Gebetsexperiment nicht funktionierte: Man zitiert den Bibelvers, dass man Gott nicht versuchen soll (5. Mose 6,16), oder man argumentiert, dass Beter und Gebet Bedingungen für erhörliches Gebet erfüllen müssen. Außerdem könne Gott zum Wohl der Patienten wirken, selbst wenn die eine oder andere Komplikation während des Genesungsprozesses auftritt. In dem genannten Aufsatz argumentiert C.S. Lewis, dass Gott häufig Gebete nicht in der erbetenen Form erhört: „Das Gebet ist eine Bitte. Das Wesen der Bitte, im Unterschied zum Zwang, besteht darin, dass sie erfüllt werden kann oder nicht. Und wenn ein unendlich weises Wesen die Bitten endlicher und törichter Geschöpfe anhört, wird es sie natürlich manchmal erfüllen und manchmal nicht. Beständiger ‚Erfolg‘ im Gebet würde die Wahrheit der christlichen Lehre keineswegs bestätigen. Er würde viel eher etwas wie eine Zauberkraft beweisen – eine Kraft gewisser menschlicher Wesen, den Lauf der Natur zu beherrschen.“ (S.132)

Aus diesem letzten Gedanken folgt, dass ein „Funktionieren“ des Gebetserperiments kein Beleg dafür wäre, dass Gott Gebete erhört. Selbst wenn wir in unserem Alltag Gebetserhörungen erleben, können wir nicht objektiv beweisen, dass das auf unser Gebet zurückzuführen ist: „Manchmal erhalten wir, worum wir bitten, und manchmal nicht. Erhalten wir es, so ist es nicht halb so leicht, wie man vermuten könnte, mit wissenschaftlicher Gewissheit einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Bitten und Erhalten zu beweisen.“ (S.135)

Das Gebet ist also ein sehr vielschichtiges Phänomen, das man nicht durch das Auswerten vorher festgelegter Messgrößen erfassen kann. Ein Gebet mit vorgeschriebenen Inhalten wie in dem beschriebenen Experiment ist weit entfernt von den üblichen Gebeten eines Christen. Denn das Gebet ist Teil einer persönlichen Beziehung zum lebendigen Gott, die viel mehr umfasst als die Bitte darum, dass gewisse Ereignisse eintreffen mögen. Die Qualität einer Beziehung lässt sich nicht messen. Wie sollte man die Liebe zwischen Ehepartnern messen? Diese Liebe kann sich doch auf unzählige Arten äußern. Daran, wie oft der Partner eine Bitte erfüllt, kann man seine Liebe nicht messen. Vielleicht gibt er einfach nur genervt nach. Oder vielleicht hat er gerade wegen seiner Liebe gute Gründe, die Bitte nicht so, wie formuliert, zu erfüllen.

Trotz all dieser Überlegungen regt sich in mir Widerstand gegen die Folgerung, dass Gebetserhörungen nicht objektiv wahrnehmbar sein sollen. Immerhin waren Erfahrungsberichte und Biographien von Christen ein wichtiger Grund dafür, dass ich mich auf den Glauben eingelassen habe. Erlebnisse wie die von Bruder Andrew, über den ich Anfang 2021 berichtet habe, lassen sich meines Erachtens schwerlich erklären, wenn es keinen Gott gibt, der Gebete erhört.

So habe ich in Bezug auf Gebetsexperimente noch keine feste Meinung. Ich tendiere zu der Erwartung, dass zumindest ein kleiner Effekt der Gebete der Gebetsgruppen vorhanden sein sollte, der freilich mit den bisherigen Stichprobengrößen noch in den statistischen Unsicherheiten untergeht. Ich bin gespannt, was zukünftige Forschung noch herausfinden wird.

Hinweis: Es gibt einen interessanten englischen Wikipedia-Eintrag zur Wirkung von Gebet.

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