Wenn Naturwissenschaftler Atheisten sind

Sind Sie der Meinung, dass Naturwissenschaftler mehrheitlich Atheisten sind? Oder dass diejenigen Naturwissenschaftler, die Atheisten sind, einen Widerspruch zwischen Glauben und Naturwissenschaft sehen? Wer Richard Dawkins als typisches Beispiel atheistischer Wissenschaftler ansieht, muss den Eindruck haben, dass die meisten atheistischen Naturwissenschaftler dem Glauben gegenüber feindlich eingestellt sind. Doch dem ist nicht so.

In meinem Blogbeitrag vom 14.8. berichtete ich bereits von der umfangreichen Untersuchung der Soziologin Elaine Ecklund und ihrer Koautoren über die Einstellung von Naturwissenschaftlern zum Glauben. Diese Untersuchung ergab u.a., dass der Anteil an Atheisten unter den Naturwissenschaftlern ungefähr doppelt so hoch ist wie in der allgemeinen Bevölkerung des jeweiligen Landes. Nun wertete Elaine Ecklund zusammen mit ihrem Kollegen David R. Johnson die bei der Untersuchung erhobenen Daten weiter aus und publizierte einen Folgeband zur Frage, was atheistische Naturwissenschaftler wirklich denken. Das Buch trägt den Titel „Varieties of Atheism in Science“. 1293 atheistische Physiker und Biologen in den USA und in Großbritannien nahmen an der Umfrage teil, ein Drittel von ihnen Frauen. Mit 81 von ihnen wurden ausführliche Interviews geführt.

In diesen Interviews ging es nicht nur darum, was die Interviewten vom Glauben halten, sondern auch darum, wie sie zu Atheisten wurden. 53 Prozent der atheistischen Wissenschaftler in den USA und 65 Prozent derer in Großbritannien waren schon zeitlebens Atheisten. Wissenschaftler kommen häufiger aus atheistischen Elternhäusern als Nicht-Wissenschaftler. Von denen, die in ihrer Jugend noch keine Atheisten waren, sagen weniger als die Hälfte, dass die Beschäftigung mit der Wissenschaft sie weniger gläubig machte. Mehrheitlich ist der Einfluss sozialer Netzwerke, der Eltern, der Freunde und der Glaubensgemeinschaften für den Verlust an Glauben verantwortlich. Einige empfanden den Glauben, der in ihren Gemeinden vermittelt wurde, naiv und wenig begründet. Wer von Natur aus gerne kritisch nachdenkt, sucht auch bei Glaubensfragen überzeugende Argumente. Diese werden in Gemeinden leider oft zu wenig vermittelt. Für einige der Interviewten war das Eintauchen in ein neues, liberal oder gar atheistisch geprägtes, soziales Umfeld am College oder der Universität der Anlass, sich von den als einengend empfundenen Bindungen an ihr bisheriges Umfeld zu befreien. Andere Interviewte begründeten ihre Ablehnung des Glaubens mit schlechten Erfahrungen mit Christen, die sie als heuchlerisch und selbstgerecht erlebten.

Auch wenn die Wissenschaft meist nicht der Hauptgrund ist, warum die Interviewten ihren Glauben aufgaben, half ihnen doch die Wissenschaft dabei, ihre neue Identität als Atheisten zu finden und viele Aspekte der Welt ohne Gott zu verstehen. Dabei werden sie keineswegs zwangsläufig zu Glaubensgegnern. Viele sind dem Glauben gegenüber gleichgültig oder gar wohlwollend eingestellt. Ecklund und Johnson identifizieren drei Sorten von atheistischen Wissenschaftlern: zwei Drittel sind „modernistische Atheisten“, sechs Prozent „spirituelle Atheisten“ und 27 Prozent „kulturell religiöse Atheisten“.

Die modernistischen atheistischen Wissenschaftler beschäftigen sich nicht mit Religion oder Spritualität. Im besten Fall haben sie keine negativen Gefühle gegenüber der Religion; im schlechtesten Fall sind sie scharfe Kritiker jeder Art von Glauben, da er ihrer Meinung nach schädlich sei und den Fortschritt der Wissenschaft behindere. Oft denken modernistische atheistische Wissenschaftler, dass die Wissenschaft der einzige zuverlässige Zugang zur Wahrheit sei, da nur sie sich auf überprüfbare Nachweise stütze. Sie betrachten die wissenschaftlichen und die religiösen Erklärungen als konkurrierende Zugänge zu derselben Wirklichkeit. Einige von ihnen gehen so weit zu meinen, dass es nichts gibt, was der Wissenschaft prinzipiell unzugänglich ist, doch sie sind in der Minderheit. Ein Teil der modernistischen atheistischen Wissenschaftler erkennen an, dass Religion eine positive Rolle in der Gesellschaft spielen kann, z.B. indem sie Sinn und Zugehörigkeit bietet.

Die kulturell religiösen atheistischen Wissenschaftler haben beständigen Kontakt zum Glauben, z.B. durch ihren Ehepartner oder durch Gottesdienstbesuch. Ungefähr 16 Prozent der atheistischen Wissenschaftler in den USA gehen gelegentlich in einen Gottesdienst, und 10 Prozent sagen sogar, dass sie ab und zu beten. In Großbritannien betragen diese beiden Zahlen 12 und 3 Prozent. Insbesondere jüdische atheistische Wissenschaftler nehmen an jüdischen Feiern und Ritualen teil, da sie Teil ihrer Herkunft und ihrer kulturellen Identität sind. In Oxford und Cambridge nehmen atheistische Wissenschaftler nicht selten an den Abendmessen ihres Colleges teil, da dies zu ihrem kulturellen Erbe gehört und die biblischen Geschichten und die ganze Atmosphäre sie ansprechen. Nicht wenige atheistische Wissenschaftler schicken ihre Kinder auf christliche Schulen, wenn dort die Ausbildung besser ist. Sie meinen zudem, dass es zur Allgemeinbildung gehört, die Bibel und das Christentum zu kennen. So können sich die Kinder später selbst entscheiden, ob und was sie glauben möchten. Einige dieser atheistischen Wissenschaftler sind mit einem christlichen Partner verheiratet, besuchen mit ihm öfter einen Gottesdienst und willigen in eine christliche Erziehung der Kinder ein. Sie stehen dem Glauben wohlwollend gegenüber. Gleichzeitig ist ihnen wichtig, dass ihre Kinder lernen, kritisch zu denken.

Die spirituellen atheistischen Wissenschaftler glauben zwar nicht an Gott, kennen aber die Erfahrung von Staunen und Ehrfurcht. Sie spüren, dass es etwas gibt, das größer ist als sie selbst. Einige von ihnen praktizieren Meditation. Das Staunen und die Ehrfurcht gegenüber dem Universum oder dem Leben hilft ihnen, bessere Wissenschaftler zu sein und ihre Forschung zum Wohl der Menschheit und der Natur zu machen. Gedanken aus den östlichen Religionen über die Einheit aller Dinge tröstet einige von ihnen, wenn sie an den Tod denken.

In den Interviews wurden die atheistischen Wissenschaftler auch gefragt, ob sie einen Sinn in ihrem Leben sehen, und wenn Ja welchen. Während einige keinen Sinn im Leben sehen, gaben andere an, dass ihnen die Erkenntnis der Natur oder die kreative Forschungstätigkeit Sinn vermitteln; andere sehen einen Sinn ihres Daseins darin, bei der wissenschaftlichen Ausbildung junger Menschen mitzuwirken oder durch ihre Forschung einen Beitrag zum Wohl der Menschheit zu leisten.

Die atheistischen Wissenschaftler wurden auch nach ihrer moralischen Einstellung gefragt. Die allermeisten vertraten klare moralische Normen wie Chancengleichheit für alle und Respekt allen Menschen gegenüber. Interessanterweise schnitten die atheistischen Wissenschaftler bei einigen moralischen Fragen besser ab als die religiösen Wissenschaftler: Religiöse Wissenschaftler sagten öfter (71 Prozent) als atheistische Wissenschaftler (67 Prozent), dass es ihnen wichtig ist, dass andere sie respektieren und tun, was sie sagen. 41 Prozent der religiösen Wissenschaftler sagten, dass es ihnen wichtig sei, reich zu sein und viel zu besitzen, gegenüber 34 Prozent der atheistischen Wissenschaftler. Atheistische Wissenschaftler begründen ihre moralischen Wertvorstellungen mit dem Wohl der Menschheit. Sie wollen die Welt zu einem besseren Ort machen.

Das Buch endet mit dem Wunsch, dass evangelikale Christen das Vorurteil ablegen, dass Wissenschaftler im Allgemeinen dem Glauben gegenüber feindlich eingestellt seien, denn das hält einige junge Christen davon ab, Naturwissenschaften zu studieren, und führt dazu, dass in gewissen christlichen Kreisen wissenschaftliche Erkenntnisse mit Skepsis betrachtet werden. Dass dies der Gesellschaft schadet, zeigt sich zur Zeit besonders, wenn es um den Klimawandel oder Corona-Schutzmaßnahmen und -Impfungen geht.

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