Wie viele Israeliten zogen aus Ägypten?

Die Geschichten vom Auszug aus Ägypten und Bundesschluss am Sinai sind die zentralen Geschichten des Alten Testaments und in ihrer Bedeutung vergleichbar mit der Kreuzigung und Auferstehung Jesu im Neuen Testament. Sie stiften die Identität des Volkes Israel und seines Glaubens. Entsprechend häufig werden sie im Alten Testament erwähnt.

Doch seit dem Aufkommen der Bibelkritik im 18. Jh. werden diese Geschichten in der universitären Theologie angezweifelt. Viele meinen, dass sie gar nicht historisch sind, sondern dass die Israeliten von Anfang an in Kanaan gelebt haben. Diejenigen, die der biblischen Version einen gewissen historischen Kern zugestehen, glauben, dass eine kleine Gruppe ägyptischer Herkunft sich den in Kanaan wohnenden Israeliten angeschlossen hat. Die Zweifel an der biblischen Darstellung beruhen auf den wundersamen Elementen der Geschichten, auf fehlenden außerbiblischen Quellen, auf der scheinbar nicht in die damalige Zeit passenden Komplexität des mosaischen Gesetzes und auf den unrealistisch großen Zahlen von Personen, die laut dem Bibeltext aus Ägypten auszogen.

Heute möchte ich auf den letzten dieser Kritikpunkte eingehen. Mir widerstrebt es, die biblischen Berichte vom Exodus und der Wüstenwanderung des Volkes Israel als weitgehend während und nach der Babylonischen Gefangenschaft konstruierte Geschichten aufzufassen. Beim Lesen der Texte fällt auf, dass gewissenhaft über Reisewege, Rastplätze und Namen und Anzahl von Personen Buch geführt wird. Das erweckt bei mir den Eindruck, dass die uns vorliegenden biblischen Texte sich auf originale Aufzeichnungen von damals gründen. Die Rekonstruktionen der Bibeltextentstehung, die ich in theologischen Abhandlungen lese, scheinen mir nur eine Erklärungsmöglichkeit von mehreren zu sein.

Die Personenzahlen sind allerdings tatsächlich unrealistisch groß. In 4. Mose 2, 32 steht, dass die Gesamtzahl der Männer über 20 Jahren (also die kampfesfähigen Männer), die aus Ägypten auszogen und nicht dem Stamm der Leviten angehörten, 603550 betrug. Wenn man jüngere Männer, Frauen und Kinder und die Leviten dazunimmt, müssten es also mindestens 2 Millionen Personen gewesen sein. Als Physikerin bin ich es gewohnt, Abschätzungen zu machen. Daher laufen in meinem Kopf beim Lesen des Durchzugs durch das Schilfmeer folgende Überlegungen ab: Wie breit war der Pfad, auf dem die Israeliten durch das Meer zogen? Schätzen wir mal großzügig 200 Meter. Wie viele Personen konnten nebeneinander auf diesem Pfad gehen? Da die Viehherden mit dabei waren, könnten es vielleicht 100 Leute gewesen sein. In welchem Zeitabstand betraten die Israeliten hintereinander diesen Pfad? Wenige Sekunden, nehmen wir 2 Sekunden. Wie lange dauert es also, bis sie alle das ägyptische Festland verlassen haben? 2 Millionen, geteilt durch 100, mal 2 Sekunden, das ergibt ca. 11 Stunden. Das ist viel zu lange dafür, dass sie ja schon die Ägypter kommen sahen, bevor sie anfingen, das Schilfmeer zu durchqueren. Mit einer Breite des Pfads von 1 Kilometer könnten sie es in gut 2 Stunden schaffen, das scheint immer noch lang, aber nicht ganz unrealistisch.

Doch dann steht man vor dem nächsten Problem, der Wüstenwanderung: Der Pfad, auf dem sie durch die Wüste zogen, kann keinen Kilometer breit gewesen sein. Da würde man bestenfalls 20-40 Meter ansetzen. Nehmen wir 40 Meter. Dann dauert es ca. 55 Stunden, bis alle Israeliten an einem stehenden Beobachter vorbeimarschiert sind. Bei einer Marschgeschwindigkeit von 3 Kilometern pro Stunde ist der Zug der Israeliten dann 165 Kilometer lang. Es können gar nicht alle Leute am selben Tag am Rastplatz ankommen oder von ihm aufbrechen. (Wer die geschätzten Zahlen anders wählen möchte, kann die Rechnung gerne mit anderen Zahlen durchführen. Es bleibt dabei, dass unrealistische Ergebnisse herauskommen.)

Noch schwieriger wird es, wenn alle Leute von der Quelle trinken sollen, die Mose durch Schlagen auf den Felsen geöffnet hat. Wie viele Personen können dort gleichzeitig Wasser schöpfen? Vielleicht 10? Wie lange steht jeder am Wasser, um den Krug für seine Familie zu füllen? 1 Minute? Für wie viele Leute schöpft jeder? 10? Dann schöpfen 10 Leute pro Minute Wasser für je 10 Leute, also wird pro Minute Wasser für 100 Personen geschöpft. Für 2 Millionen Personen muss man dann 20000 Minuten lang schöpfen. Das sind ungefähr 2 Wochen. Da sind die ersten schon wieder verdurstet, und die Rinder und Esel haben auch noch kein Wasser bekommen...

Auch wenn man die verschiedenen Zahlenangaben innerhalb des 4. Buchs Mose vergleicht, kommt man auf Widersprüche: In 4. Mose 3, 43 steht, dass die Zahl der erstgeborenen Männer unter den Israeliten 22273 beträgt. Wenn es aber, wie oben erwähnt, ca. eine Million Männer gibt, bedeutet dies, dass jede Familie im Durchschnitt ca. 50 Söhne hat (eine Million geteilt durch die Zahl der erstgeborenen Söhne); zusammen mit den Töchtern sind dies ca. 100 Kinder pro Familie. Das passt also auch nicht.

Zwei Millionen Israeliten passen auch nicht zu der Aussage in 2. Mose 23, 29+30, dass die Israeliten zu wenige waren, um das ganze verheißene Land zu besiedeln, und in 5. Mose 7, 7, dass sie das „kleinste unter allen Völkern“ sind.

Wie kann man dieses Rätsel lösen? Mein Lieblingstext zu diesem Thema ist der Artikel „The Number of People in the Exodus from Egypt: Decoding Mathematically the Very Large Numbers in Numbers I and XXVI“ von Colin Humphreys, erschienen 1998 in der Zeitschrift Vetus Testamentum, Band 8. Colin Humphreys ist Professor für Materialwissenschaften in Cambridge und liebt als Physiker den Umgang mit Zahlen genauso sehr wie ich. Er beginnt seine Überlegungen mit der Feststellung, dass das hebräische Wort für „Tausend“, das ja ohne Vokale geschrieben wurde, damals mehrere Bedeutungen hatte und auch „Anführer“, „Gruppe“ oder „Trupp“ bedeuten konnte. Darauf haben vor Humphreys auch schon andere Autoren hingewiesen. Da es um die Zählung der kampfesfähigen Männer ging, plädiert Humphreys dafür, im ersten Kapitel des vierten Buchs Mose die Übersetzung „Trupp“ zu wählen. Ein Trupp ist eine kleine Einheit aus Männern mehrerer Familien.

Um die Größe eines Trupps abzuschätzen, muss man nur die Zahlenangaben der Männer über 20 Jahren für jeden Stamm in 4. Mose 1 in die neue Lesart übersetzen. Statt 46500 Männer für den Stamm Ruben, liest man nun: 46 Trupps, zusammen 500 Männer. Zählt man die erwähnten Zahlen der genannten 11 Stämme auf diese Weise zusammen, kommt man auf 5500 Männer über 20 Jahren. Die Gesamtzahl 603550 wird dann zu 598 Trupps mit zusammen 5500 Männern. Ein Trupp umfasst demnach ungefähr neun Männer. Wenn man die 5500 kampfesfähigen Männer hochrechnet auf das ganze Volk, gab es ca. 20000 Israeliten insgesamt. Dies ist 100mal niedriger als 2 Millionen. Damit verkürzt sich die oben berechnete Zeit für das Schöpfen aus der Quelle von ca 300 auf ca. 3 Stunden, der Zug der Israeliten verkürzt sich von 165 auf weniger als 2 Kilometer, und die Zeit, bis alle Israeliten an einem Beobachter vorbeimarschiert sind, von 55 Stunden auf eine gute halbe Stunde. Dies alles scheint sehr realistisch.

Um diese Überlegung zu untermauern, überprüft Humphreys als nächstes, ob sich damit obiger Widerspruch mit der Zahl der erstgeborenen Männer auflöst. Hierfür benutzt Humphreys diejenige Zahlenangabe des 4. Buchs Mose, die so klein ist, dass sie realistisch scheint: In Kapitel 3 Vers 46 steht, dass die Zahl der erstgeborenen Männer in Israel die Zahl der Männer des Stammes Levi um 273 übersteigt. Weil alle männliche Erstgeburt gottgeweiht sein sollte, mussten so viele Personen, wie es erstgeborene Männer gab, Gott geweiht werden. Nun wurde der Stamm Levi Gott geweiht, denn er sollte den Priesterdienst versehen. Also konnte jede Erstgeburt durch einen Leviten ausgelöst werden – bis auf die o.g. 273 Personen. Für jeden dieser 273 Männer mussten 5 Schekel bezahlt werden. Der biblische Text sagt, dass insgesamt 1350 Schekel bezahlt wurden. Diese Zahlen sind also miteinander konsistent.

Nun kann man weiter abschätzen: Da die Leviten einer der 12 Stämme Israels sind, beträgt die Gesamtzahl der Israeliten der übrigen Stämme ca. 11 mal die der Leviten. Außerdem kann man schätzen, dass ca. die Hälfte der Bevölkerung jünger als 20 Jahre ist, wie es heute noch in geburtenstarken Völkern der Fall ist.  Also gibt es ca. 11000 Männer (zweimal 5500) in den 11 Stämmen außer den Leviten und 1000 Leviten (ein Elftel davon). Mit diesen beiden Abschätzungen kann man ausgehend von der o.g. Zahl 273 ausrechnen, wie viele Söhne eine Familie hatte: 11000 geteilt durch diese Zahl an Söhnen muss ja die Zahl der erstgeborenen Söhne der 11 nichtlevitischen Stämme, also 1273 ergeben (Zahl der levitischen Männer plus 273).  Das ergibt durchschnittlich 8-9 Söhne pro Familie. Das ist schon deutlich besser als die oben erwähnten 50 Söhne. Humphreys hält diese Zahl für realistisch. Für meinen Geschmack ist sie immer noch zu hoch, auch wenn man Polygamie berücksichtigt. Doch diese Rechnungen sind auch nur grobe Abschätzungen. Ich habe mit dieser Rechnung ein wenig gespielt: Wenn man z.B. die Zahl der Leviten um 50 Prozent höher macht (sie muss ja nicht genau der elfte Teil der übrigen Stämme sein), kommt man auf kleinere Familiengrößen mit 5-6 Söhnen. Wenn es Familien gibt, deren erstgeborener Sohn nicht mitgezählt werden kann, weil er nicht mehr lebt, verkleinert sich die berechnete Familiengröße ebenfalls.

Auch wenn diese Überlegungen wahrscheinlich nicht in allen Punkten richtig sind, zeigen sie auf jeden Fall, dass die Zahlen, die im Bibeltext stehen, auf zeitgenössische reale Zahlen zurückgehen können. Die Zahlen wurden demnach richtig niedergeschrieben, aber ihre Bedeutung wurde im Laufe der Zeit vergessen, so dass daraus schließlich die unrealistischen zwei Millionen Personen wurden, die der uns vorliegende Bibeltext nahegelegt. Mit der Lesart von „Trupp“ statt „Tausend“ kommt man auch mit späteren Zahlenangaben besser zurecht, wenn es um die Zahl von Männern geht, die in den Kampf zogen oder im Kampf fielen. (Das sind auch oft „Tausende“.)

Diese Überlegungen zu den Zahlenangaben gehen natürlich nur auf einen der Einwände gegen die Historizität des Exodus und des Bundesschlusses am Sinai ein. Da ich als Physikerin wenigstens für den Umgang mit Zahlen qualifiziert bin, darf ich mich hierzu auch am ehesten äußern. Doch als Christin, für die die Bibel einen hohen Stellenwert hat, interessiere ich mich auch für die anderen Kritikpunkte. Welche Lektüre und Überlegungen ich hier hilfreich finde, möchte ich in späteren Blogbeiträgen erzählen.


Beliebte Posts aus diesem Blog

Wie alt wurden Noah, Jakob und Mose?

Eine Art Dreikampf

Am dritten Tage auferstanden von den Toten

Long Covid

Harald Lesch und die Frage nach Gott