Gehen die Evangelien auf Augenzeugenberichte zurück?

In den vergangenen Jahrzehnten wurden diverse Theorien über die Entstehung der Evangelien hervorgebracht und darüber, welche Taten und Aussagen Jesu authentisch sind und welche später von der Gemeinde hinzugefügt oder neu interpretiert wurden. Manche vertreten die Auffassung, dass der historische Jesus in den Evangelien kaum zu erkennen sei, andere argumentieren, dass hier ein authentisches Portrait von Jesus gezeichnet wird. Für Ersteres ist wohl Rudolf Bultmann der bekannteste Name, Letzteres ist z.B. die Sicht des vorigen Papstes Benedikt XVI, die er in seinem dreibändigen Werk „Jesus von Nazareth“ zum Ausdruck bringt. Ich muss gestehen, dass mich Lehrmeinungen, die große Teile der Evangelien als nachträgliche Ergänzungen und Interpretationen der Gemeinde sehen, nicht überzeugen. Da es keine historischen Dokumente gibt, anhand derer man verschiedene Entwicklungsstufen der Evangelien nachweisen könnte, scheint hier vieles Spekulation und Sache von vorgefassten Meinungen darüber zu sein, was man dem historischen Jesus zutraut. Das Befremden, das viele Nicht-Theologen in Bezug auf solche Theorien empfinden, wird unübertroffen vom Literaturwissenschaftler C.S. Lewis in seinem schon früher von mir erwähnten Essay „Fern-Seed and Elephants“ (deutscher Titel: „Was der Laie blökt“, erschienen im Johannes-Verlag Einsiedeln) zum Ausdruck gebracht. Hier ist ein kurzer Ausschnitt: 

„So ist also im Neuen Testament keinerlei Persönlichkeit unseres Herrn zu finden? Was ist in diesem gelehrten Deutschen vorgegangen, dass er blind geworden ist für etwas, das außer ihm die ganze Welt sieht? Welchen Beweis haben wir dafür, dass er eine Persönlichkeit erkennen würde, falls sie vor ihm stünde? Hier steht Bultmann gegen die Welt. Wenn irgend etwas allen Gläubigen, und sogar manchen Ungläubigen gemeinsam ist, dann das Bewusstsein, sie seien im Evangelium einer Persönlichkeit begegnet.“

Gibt es keine historische Information über die Entstehung der Evangelien? Doch, es gibt sie, denn sie wurde von den frühen Christen überliefert. Eusebius von Caesarea schrieb Anfang des 4. Jh. eine ausführliche Kirchengeschichte von den Anfängen bis zu seiner Zeit. Er hatte Zugang zu einer großen Bibliothek und zu vielen frühchristlichen Schriften, die heute zu großen Teilen nicht mehr existieren. Seine ausführlichen Zitate aus diesen frühen Schriften sind daher eine wertvolle Quelle. Eusebius berichtet im dritten Buch seiner Kirchengeschichte darüber, wie die Evangelien der Überlieferung nach entstanden sind. Er zitiert hierzu insbesondere aus den Schriften des Papias von Hierapolis, die ca. aus dem Jahr 100 stammen. Papias berichtet, er habe jede Gelegenheit genutzt, von denjenigen, die die Apostel persönlich gekannt haben, möglichst viel zu erfahren: 

„Kam einer, der den Älteren gefolgt war, dann erkundigte ich mich nach der Lehre der Älteren und fragte: 'Was sagte Andreas, was Petrus, was Philippus, was Thomas oder Jakobus, was Johannes oder Matthäus oder irgendein anderer von den Jüngern des Herrn?'“

Über die Entstehung des Markusevangeliums zitiert Eusebius den Papias so: 

„Markus hat die Worte und Taten des Herrn, an die er sich als Dolmetscher des Petrus erinnerte, genau, allerdings nicht der Reihe nach, aufgeschrieben. Denn er hatte den Herrn nicht gehört und begleitet; wohl aber folgte er später, wie gesagt, dem Petrus, welcher seine Lehrvorträge nach den Bedürfnissen einrichtete, nicht aber so, dass er eine zusammenhängende Darstellung der Reden des Herrn gegeben hätte. Es ist daher keineswegs ein Fehler des Markus, wenn er einiges so aufzeichnete, wie es ihm das Gedächtnis eingab. Denn für eines trug er Sorge: nichts von dem, was er gehört hatte, auszulassen oder sich im Bericht keiner Lüge schuldig zu machen.“ 

Bezüglich des Matthäus-Evangeliums schreibt Papias: 

„Matthäus hat in hebräischer Sprache die Reden zusammengestellt; ein jeder aber übersetze dieselben so gut er konnte.“ 

Über das Lukas-Evangelium schreibt Eusebius: 

„Lukas teilt selbst zu Beginn seines Evangeliums mit, was ihn zur Abfassung desselben veranlasst habe [...] eine genaue Darstellung dessen, was er gründlich und wahrheitsgemäß aus dem ständigen lehrreichen Verkehr mit Paulus und den übrigen Aposteln erfahren habe, in einem eigenen Evangelium zu bieten.“ 

 Auch über Johannes kennt Eusebius die Überlieferung: 

„Damals lebte noch in Asien der Apostel und Evangelist Johannes, den Jesus liebte, und leitete die dortigen Gemeinden, nachdem er nach dem Tod des Domitian von der Insel zurückgekehrt war, auf die man ihn verbannt hatte. Die Tatsache, dass Johannes in den Tagen des Trajan noch am Leben war, wird durch zwei Zeugen genügend bestätigt. […] Irenäus und Klemens von Alexandrien. […] Dass die Alten ihren guten Grund hatten, wenn sie dasselbe (d.h. das Evangelium des Johannes) an vierter Stelle, also nach den anderen drei, eingereiht haben, dürfte sich aus folgendem ergeben: [...] von allen (Schülern des Erlösers) haben uns nur Matthäus und Johannes Erinnerungen an die Lehrvorträge unseres Herrn hinterlassen. […] Matthäus, der zunächst unter den Hebräern gepredigt hatte, schrieb, als er auch noch zu anderen Völkern gehen wollte, das von ihm verkündigte Evangelium in seiner Muttersprache. […] Nachdem nun Markus und Lukas die von ihnen gepredigten Evangelien herausgegeben hatten, sah sich nach der Überlieferung schließlich auch Johannes, der sich ständig mit der mündlichen Predigt des Evangeliums befasst hatte, zur Niederschrift veranlasst, und zwar aus folgendem Grunde: Nachdem die zuerst geschriebenen drei Evangelien bereits allen und auch dem Johannes zur Kenntnis gekommen waren, nahm dieser sie, wie man berichtet, an und bestätigte ihre Wahrheit und erklärte, es fehle den Schriften nur noch eine Darstellung dessen, was Jesus zunächst, zu Beginn seiner Lehrtätigkeit, getan habe.“ 

(Zitate nach der Übersetzung von Rudolf Helm). Diese historische Überlieferung kann man m.E. nicht übergehen oder weginterpretieren. Doch noch besser ist es, wenn man auch direkt aus den Evangelien selbst Informationen darüber entnehmen kann, ob sie historisch zuverlässig sind. Es gibt viele Angaben über Orte, Zeiten und Personen in den Evangelien, die man anhand der Archäologie etc. überprüfen kann. F.F. Bruce, Professor für Bibelwissenschaften und Exegese an der Universität Manchester, schrieb im Jahr 1943 den Klassiker „Are the New Testament Documents Reliable?“ (deutsch: „Sind die neutestamentlichen Dokumente zuverlässig?“) zu dieser Frage. Er kommt zum Ergebnis, dass die Evangelien viele Angaben machen, die nur jemand wissen kann, der in der damaligen Zeit und an den Orten des Geschehens gelebt hat. Vielleicht werde ich in einem zukünftigen Post mehr über dieses Buch erzählen. 

Doch heute möchte ich von ganz neuen Forschungen zur Historizität der Evangelien berichten, die mich als Physikerin durch ihre mathematische Vorgehensweise faszinieren: Hätten Sie geahnt, dass man durch das Zählen von Wörtern, Personennamen und Ortsangaben Erkenntnisse über die Zuverlässigkeit der Evangelien gewinnen kann? Darüber berichtet Peter Williams, Direktor des Tyndale House und Dozent an der Universität Cambridge, in einem Vortrag, auf den ich kürzlich im Internet stieß. Zunächst erzählt Williams, was man alles lernen kann, wenn man auswertet, wie häufig welcher Name in den Evangelien vorkommt. Es ist ähnlich wie heute: Zu bestimmten Zeiten sind bestimmte Namen „in“ und tauchen oft auf, zu anderen Zeiten sind andere Namen modern. Ich merke das an meinem eigenen Namen: Während meiner Schulzeit gab es zwei weitere Barbaras in der Klasse, doch heute wird dieser Name kaum vergeben, wie man hier sehen kann. Die Namensgebung hängt auch von der Region ab. 

 So war es auch in biblischen Zeiten: Die Namen, die in Palästina vergeben wurden, sind anders als die, die man in Ägypten oder Griechenland gegeben hat. Im ersten Jahrhundert waren sie anders als im zweiten Jahrhundert. Wie kann man nun herausfinden, welche Namen zur Zeit Jesu unter den Juden in Palästina „in“ waren? Es gibt hierfür drei außerbiblische Quellen: Ossuare (Miniatursärge aus Stein oder Keramik zur Aufbewahrung der Gebeine eines Toten, auf denen der Name des Toten geschrieben steht), die Schriftrollen vom Toten Meer und die Schriften des jüdischen Historikers Josephus (ca. 37-100 n.Chr.). Laut dieser Quellen waren zur Zeit Jesu die fünf häufigsten Männernamen Simon, Joseph, Lazarus, Judas und Johannes (in dieser Reihenfolge). Wer die Bibel kennt, dem sind diese Namen sehr vertraut, da sie in den Evangelien alle mehrfach vorkommen. Man kann das auch nach Prozenten auswerten: Die beiden häufigsten Namen (Simon und Joseph) werden in den außerbiblischen Quellen an 15,6 % der Männer vergeben und in den Evangelien und der Apostelgeschichte (die vom Autor des Lukasevangeliums geschrieben wurde) an 18,2 %. Bei den neun häufigsten Namen sind diese beiden Zahlen 41,5 % und 40,3 %. Diese Zahlen sind beeindruckend nahe beisammen. Da der Name Simon damals sehr häufig war, brauchte man einen Weg, die verschiedenen Simons voneinander zu unterscheiden. Daher hat jeder Simon im Neuen Testament einen Namenszusatz: Simon Petrus, Simon der Zelot, Simon der Aussätzige, Simon von Kyrene, Simon der Gerber, usw. Bei seltenen Namen wie Nikodemus gibt es keinen solchen Zusatz. 

Bei den Frauennamen ist die Statistik deutlich schlechter als bei den Männern, da nur wenige Frauen in den Evangelien namentlich genannt werden. Die beiden häufigsten Frauennamen in den außerbiblischen Quellen sind Maria und Salome (zusammen rund 29 %). In den Evangelien sind es rund 39 %, insbesondere dank mehrerer Marias – die übrigens genau wie die Simons durch Namenszusätze unterschieden werden (Maria von Magdala, Maria die Mutter Jesu, usw.). Bei den neun häufigsten Namen sind diese Zahlen rund 50 % und rund 61 %. Dafür, dass so wenig Frauennamen in den Evangelien auftauchen, ist auch diese Übereinstimmung sehr gut. Was lernt man daraus? Dass die Schreiber der Evangelien wussten, welche Namen in Palästina zur Zeit Jesu wie häufig vergeben wurden. Dafür gibt es eigentlich nur eine plausible Erklärung: Die Personen, die in den Evangelien erwähnt werden, gab es wirklich! Bei den später geschriebenen sogenannten apokryphen Evangelien, die nicht den Weg in die Bibel fanden, sieht es ganz anders aus: Dort gibt es viel weniger Namen, und ihre Häufigkeiten passen auch nicht... 

Ähnlich wie die Personennamen kann man auch die Nennung von Städten und Ortschaften untersuchen. Auch hier zeigt sich, dass die Schreiber der Evangelien oder ihre Informationsquellen das Land sehr gut kennen: Es werden nicht nur Städte wie Jerusalem, Bethlehem und Jericho genannt, sondern auch kleine Orte wie Bethanien, Bethsaida und Emmaus. Jedes der vier Evangelien nennt 12 bis 14 Ortschaften mit Namen. Auch Angaben über Entfernungen werden gemacht. In den apokryphen Evangelien dagegen werden maximal zwei Orte genannt, in der Mehrzahl sogar überhaupt keiner. Die Schreiber dieser Evangelien des 2. und 3. Jahrhunderts wussten also wenig bis nichts über die Orte des Geschehens. 

Man kann nicht nur auswerten, wie viele Ortschaften in den Evangelien erwähnt werden, sondern auch, wie oft Ortschaften erwähnt werden. Man braucht nur die Gesamtzahl der Wörter zu zählen und zu überprüfen, wie viele davon der Name eines Ortes sind. Das verblüffende Ergebnis ist, dass jedes der vier Evangelien ziemlich genau fünf Ortschaften pro 1000 Wörter erwähnt. Johannes erwähnt also genauso häufig die Orte des Geschehens wie die drei Synoptiker Matthäus, Markus und Lukas. Das ist insbesondere deshalb interessant, weil das Johannes-Evangelium oft für weniger historisch angesehen wird. 

So – das waren jetzt genug Zahlen! Hoffentlich hat es Ihnen so viel Spaß gemacht wie mir, von diesen Dingen zu erfahren. Mich ermutigt es zudem im Glauben.

Literaturhinweise: Die Kirchengeschichte des Eusebius und das Buch von F.F. Bruce wurden schon oben als Quellen erwähnt. Zur Statistik biblischer Namen und Orte habe ich mich ausschließlich auf den genannten Vortrag von Peter Williams gestützt. Einen großen Ausschnitt des deutschen Textes zu Fern-Seed and Elephants“ von C.S. Lewis werde ich im Dezember in diesem Blog posten, der Johannes-Verlag hat dazu die Genehmigung gegeben. Wer nicht solange warten will, kann sich das Buch Was der Laie blökt bestellen oder das Internet-Archiv der Zeitschrift Theologisches aufsuchen: Wenn Sie hier zum Jahr 1977 gehen und die Bände 88-91 aufrufen, finden Sie den Text als Fortsetzungsgeschichte.

 

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