Qigong, der Glaube und die Wissenschaft
Vor gut einem Jahr erzählte mein Mann zwei Bekannten von uns, dass ich Qigong praktiziere, um mein vegetatives Nervensystem ins Gleichgewicht zu bringen. Die Bekannten wunderten sich darüber und warnten, dass Qigong nicht mit dem christlichen Glauben vereinbar sei und dass man sich dadurch feindlichen Mächten öffne.
In der Tat ist Qigong verbunden mit einem Lehrgebäude, das verschieden ist von der christlichen Vorstellung über die Quelle des Lebens und das Verhältnis des Menschen zur Natur. Qigong ist Teil der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) und basiert auf dem Konzept einer alles durchdringenden Energie oder Lebenskraft, dem Qi (ausgesprochen als „tschi“). Gong bedeutet Pflege, Kultivierung. In Wikipedia lesen wir: „Die chinesische Medizin geht davon aus, dass der Fluss des Qi, seine Qualitäten und seine Veränderungen für das Wohlbefinden oder das Auftreten von Krankheiten verantwortlich sind.“ In den Übungen, die ich anhand von Videos eines Kurses machte, war die Rede davon, das Qi zum Fließen zu bringen, an bestimmte Stellen im Körper zu schicken, Blockaden gegen dieses Fließen zu lösen, das uns umgebende Meer von Qi zu spüren, das Qi in der Umgebung zu wecken, zu schöpfen und zu den inneren Energiezentren zu führen. Ich praktizierte eine Version von Qigong, die Stilles Qigong genannt wird und auch für sehr erschöpfte Patienten mit Long Covid und Chronic-Fatigue-Symptom geeignet ist. Die Übungen können im Sitzen oder Liegen gemacht werden, und man kann die Bewegungen beliebig klein machen oder sich auch nur in Gedanken vorstellen. Es wird viel mit inneren Vorstellungen gearbeitet: Man verbindet sich mit der Erde oder dem Himmel, dehnt sich bis zum Horizont aus, lässt die Grenze zur Außenwelt verschwimmen und wird durchlässig. Mal spürt man die Verbindung von den Fingern zur Erde, mal einen Energieball zwischen den Händen, den man größer und kleiner werden lässt. Eine wichtige Rolle bei dem Stillen Qigong spielen auch die sechs heilenden Laute, bei denen man Töne singt und sich dabei jeweils auf ein Organ und die Schwingungen im Körper konzentriert. In der TCM wird diesen Lauten eine heilende Auswirkung auf die betreffenden Organe zugeschrieben.
Aus diesen Vorstellungen spricht ein Weltbild, in dem alles mit allem verbunden ist und das Qi als lebensspendende Kraft alles belebt und durchdringt. Wenn wir mit diesem Qi auf die richtige Weise umgehen, erfahren wir Heilung. Das ist anders als das christliche Weltbild, wo Gott der Schöpfer aller Dinge und allen Lebens ist, wo tote und belebte Materie klar unterschieden sind, und wo die Menschen erst dann tiefgehend heil werden, wenn sie die lebensverändernde Kraft von Jesus erfahren. Krankheiten bleiben weiterhin ein Teil der Schöpfung, deren Erlösung noch in der Zukunft liegt.
Die mit Qigong verbundenen Vorstellungen passen auch nicht zu unserem physikalischen und medizinischen Wissen. Das Qi ist genauso wenig nachweisbar wie die Meridiane, längs derer es im Körper fließt.
Und doch hat das Stille Qigong eine wohltuende, entspannende Wirkung. Wenn die alten Chinesen nicht herausgefunden hätten, dass gewisse Übungen gut tun, hätten sie diese nicht weiterentwickelt und kein Lehrgebäude dazu konzipiert. Freilich wussten sie nichts von den biologischen Prozessen in unserem Körper, die die Zellen ernähren und Heilungsvorgänge begleiten. Meiner Qigong-Lehrerin ist bewusst, dass es das Qi in der von der TCM gelehrten Form nicht gibt, und sie sagte bei den Übungen statt „Qi“ öfter „Sauerstoff“ oder „Stoffwechsel“, wenn es darum ging, den Zellen des Körpers Energie zuzuführen.
Wissenschaftliche Erkenntnisse sprechen dafür, dass das Stille Qigong, das ich praktiziert habe, eine beruhigende Wirkung auf das vegetative Nervensystem hat. Bei vielen Long-Covid- und CFS-Patientinnen ist das vegetative Nervensystem fast dauernd im Stressmodus, der bei Kampf oder Flucht aktiviert wird, und kaum im Entspannungsmodus. In den ersten Wochen meiner Erkrankung stellte eine Ärztin dies anhand meiner Herzfrequenzvariabilität (also den Schwankungen der Zeitintervalle zwischen Herzschlägen) fest. Das Ergebnis war, dass mein Sympathikus (der im Stressmodus aktiv ist) fast zu 100 Prozent aktiviert war und der Parasympathikus (der bei Entspannung aktiv ist) fast nicht. Daher war es wichtig, dass ich lernte, mein Nervensystem zu beruhigen.
Dazu helfen gleich mehrere Elemente des Stillen Qigong: Das Singen oder Summen von Tönen stimuliert den Vagusnerv, der der Hauptnerv des Parasympathikus ist und am Kehlkopf vorbei vom Kopf zu den verschiedenen Organen verläuft. Ebenso aktiviert das langsame, ruhige Atmen bei den Qigong-Übungen den Parasympathikus. Die Konzentration auf den Körper bei den langsamen, ruhigen Bewegungen bringt das Gedankenkarusell im Kopf zur Ruhe und trägt so ebenfalls zur Entspannung bei. Einige dieser Bewegungsübungen konzentrieren sich auf die Wirbelsäule, den Nacken oder die Schultergelenke und lockern diese behutsam. Die Lehrerin erinnerte uns daran, beim Dehnen und Bewegen vorsichtig zu sein und die Übungen nur so weit durchzuführen, wie sie angenehm sind. Wir sollten uns in die Dehung hinein entspannen und sie genießen. Auf diese Weise trägt das stille Qigong dazu bei, dass Verspannungen im Körper gelöst werden. Auch die innere Welt der Emotionen wird im stillen Qigong angesprochen: die Lehrerin ermunterte immer wieder dazu, in den Körper hineinzuspüren und wahrzunehmen, was sich meldet. Man solle selbst unangenehme Empfindungen nicht verdrängen oder bekämpfen (was ja Stress verursacht), sondern annehmen und neugierig betrachten.
Nicht nur zur Wissenschaft, sondern auch zu meinem christlichen Glauben konnte ich beim Durchführen der Qigong-Übungen Brücken schlagen: Wenn wir unser Gewicht an die Unterlage abgeben und spüren sollten, wie der Boden uns trägt und hält und wie wir durch die Erde genährt werden, dankte ich Gott, dass er mich trägt und hält und mir alles gibt, was ich zum Leben brauche. Das Annehmen unangenehmer Empfindungen bedeutete für mich, sie aus Gottes Hand zu nehmen und mit ihm darüber ins Gespräch zu kommen. Wenn wir uns gedanklich für die Weite des Himmels und die Unendlichkeit öffnen sollten, öffnete ich mich für Gottes Gegenwart. Wenn wir Qi aus der Umgebung schöpfen sollten, machte ich mir bewusst, dass Gott mir alle Lebensressourcen bereit stellt. Wenn wir die Verbundenheit mit der uns umgebenden Welt spüren sollten, dachte ich daran, wie sehr ich von diesen Ressourcen und von anderen Menschen abhängig bin. Wenn ich mich beim Singen der heilenden Laute auf ein Organ konzentrieren sollte, dankte ich Gott, dass dieses Organ schon Jahrzehnte lang seine treue Arbeit macht.
Der Entspannungszustand, der sich durch die Übungen einstellt, ist laut der Lehrerin der natürliche Zustand, in dem wir sein sollten, wenn gerade keine Gefahr droht. Leider sind wir Menschen in unserer modernen Zivilisation viel zu häufig im Stressmodus und müssen neu lernen, uns zu entspannen. Tiere sind die meiste Zeit im entspannten Zustand und gehen nur in den Flucht-oder-Kampf-Modus, wenn ein Raubtier angreift. Im entspannten Zustand stellt sich laut der Lehrerin Zuversicht und Vertrauen ein. Ich fragte per Email, auf welcher weltanschaulichen Grundlage diese Zuversicht beruhe. Die Lehrerin antwortete, es gebe keine solche Grundlage, denn das sei ein Mechanismus unseres Körpers, der keine Stütze durch rationale Gründe brauche. Im entspannten Zustand stelle sich die Zuversicht automatisch ein. Ich schrieb zurück, dass es mir eine große Hilfe ist, durch meinen christlichen Glauben eine Begründung für diese Zuversicht zu haben. Sie fand das interessant.
Auf die von mir beschriebene Weise konnte ich als Wissenschaftlerin und als Christin die Qigong-Übungen mit Gewinn durchführen. Ich kann mich nicht dazu äußern, inwiefern dies auch bei anderen Qigong-Lehrern, bei anderen Qigong-Varianten oder bei tieferem Einsteigen in Qigong noch möglich ist. Ich konnte die Qigong-Übungen als Gottes gute Gabe nehmen. Die Vorstellungen, die man sich bei den Bewegungen macht, sind für mich Bilder, die mir helfen, in die entspannungsfördernde Haltung zu kommen. Sie sind keine Realität. So schafft zum Beispiel die Vorstellung, mich bis zum Horizon auszudehnen, in meinem Brustkorb eine angenehme Weite. Manche Christen gehen vielleicht deshalb auf Abstand zu Qigong, weil sie dadurch an Dinge erinnert werden, die ihnen oder anderen in der Vergangenheit geschadet haben. Das ist ein wenig so wie das Essen von Fleisch bei den ersten Christen. Weil Fleisch oft von Götzenopfern stammte, mieden viele Christen grundsätzlich Fleisch, andere aßen es als Gottes gute Gabe (1. Kor. 10,25+26).
Auch heute noch praktiziere ich diverse Übungen aus dem Qigong-Kurs. Wenn ich mich in meinem Büro ein paar Minuten lang entspannen möchte, singe ich oftmals Töne oder mache die Übungen für Wirbelsäule, Becken und Nacken. Auch Elemente anderer Entspannungstechniken baue ich in meinen Alltag ein. Ich danke Gott für sie, denn sie helfen mir, auf dem Weg der Genesung weiter voranzukommen.
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