Wie Noah und Joseph in die Wissenschaft eingingen

Haben Sie schon vom Noah-Effekt oder dem Joseph-Effekt gehört? Man findet diese Effekte in dem Zeitverlauf von täglichen Regenmengen, Börsenkursen, dem Wasserstand von Flüssen, den Budgets von Ministerien, der Anzahl von Sonneneruptionen und vielen mehr. Der Noah-Effekt ist nach der biblischen Geschichte von der Sintflut benannt und besagt, dass extreme Ereignisse viel schlimmer sein können, als eine naive statistische Berechnung nahelegt. Beispiele sind unerwartet verheerende Einbrüche der Börsenkurse oder ‚sintflutartige‘ Regenfälle. Der Joseph-Effekt bezieht sich auf die biblische Geschichte, in der Joseph die Träume des Pharao deutet und ihm ankündigt, dass erst sieben fette Jahre mit reicher Ernte kommen werden und dann sieben magere Jahre, in denen die Ernte fast ausbleibt (1. Mose 41). Passend dazu besagt der Joseph-Effekt, dass Trends über eine gewisse Zeit anhalten.

Beide Effekte bedeuten, dass Zeitverläufe von Daten, so zufällig sie auch aussehen, sich anders verhalten als reiner Zufall. Eine rein zufällige Datenfolge (z.B. für einen fiktiven Börsenkurs oder Wasserstand) kann man erzeugen, indem man wiederholt eine Münze wirft und bei ‚Kopf‘ den Zahlenwert um eine Einheit erhöht und bei ‚Zahl‘ um eine Einheit erniedrigt. Hier sieht man acht verschiedene Beispiele eines so erzeugten Zeitverlaufs. In einer solchen zufälligen Abfolge gibt es viel weniger große Ausschläge als in den echten Daten, und lange Trends in einer Richtung sind viel seltener. Um den Unterschied zu sehen, betrachten Sie zum Vergleich den Verlauf des DAX.

Der Namensgeber der beiden Effekte ist der französisch-US-amerikanische Mathematiker Benoît Mandelbrot (1924-2010). Er stammte aus einer jüdischen Familie und kannte offensichtlich die biblischen Geschichten. „Mandelbrot leistete Beiträge zu einem breiten Spektrum mathematischer Probleme, einschließlich der theoretischen Physik, der Finanzmathematik und der Chaosforschung. Am bekanntesten aber wurde er als Vater der fraktalen Geometrie. Er beschrieb die Mandelbrot-Menge und prägte den Begriff „fraktal“. Mandelbrot trug selbst stark zur Popularisierung seiner Arbeiten bei, indem er Bücher schrieb und Vorlesungen hielt, die für die Allgemeinheit bestimmt waren.“ (wikipedia) Sein Buch „Die fraktale Geometrie der Natur“ begeisterte mich als junge Wissenschaftlerin. Wer einen Einblick in die faszinierende Welt der Fraktale bekommen möchte, braucht nur im Internet eine Bilder-Suche nach dem Begriff „fraktal“ durchzuführen. Fraktale haben die Eigenschaft, dass Ausschnitte, die man herausgreift und vergrößert, ähnlich aussehen wie das Ganze. Die oben genannten Zeitreihen haben ebenfalls fraktale Eigenschaften: Auch einzelne Ausschnitte zeigen den Noah- und Joseph-Effekt.

Die Inspiration für den Joseph- und Noah-Effekt erhielt Mandelbrot in den 1960er Jahren durch die Arbeiten des Hydrologen Harold Edwin Hurst, der über viele Jahre den Wasserstand des Nil und seiner Zuflüsse gemessen hatte und zeigte, dass diese Daten nicht zufällig schwanken, sondern lange Perioden hoher und niedriger Werte haben. Mandelbrot fand Methoden, dieses Verhalten mathematisch zu quantifizieren. (Für die Experten: Der Noah-Effekt steckt in dem langsamen Abfall, den sog. „fat tails“, der Größenverteilungen von Schwankungen; der Joseph-Effekt in den Korrelationen der Änderungen. Beide Effekte lassen sich durch Potenzgesetze beschreiben.)

Mit seiner Originalität, Kreativität und der allgemeinverständlichen Kommunikation wissenschaftlicher Erkenntnisse ist Mandelbrot mir ein großes Vorbild – aber er wurde in anderer Hinsicht für mich zu einem warnenden Beispiel: Als ich in den 1990er Jahren begann, auf internationale Physik-Tagungen zu fahren, erlebte ich mehrfach, wie Benoît Mandelbrot nach dem Vortrag eines Kollegen nach vorne ging, das Mikrofon ergriff und erklärte, dass er die Erkenntnisse, von denen der Kollege berichtet hat, schon längst vorher hatte. Wir jungen Leute waren peinlich berührt davon, dass ein so berühmter Mensch so sehr auf sich bezogen ist. Viele andere berühmte Wissenschaftler habe ich im Gegensatz dazu als sehr bescheiden erlebt und als selbstlose Förderer der Nachwuchswissenschaftler.

Vor einigen Jahren hat einer meiner Kollegen in den USA zusätzlich zu dem Noah- und Joseph-Effekt noch den Mose-Effekt definiert, der für viele Zeitverläufe zutrifft: Dieser Effekt besagt, dass die Größe der Änderungsschritte sich mit der Zeit ändern. Die Bezeichnung bezieht sich darauf, dass Mose die Israeliten durch die Wüste führte, wobei Lagerorte und Reisedistanzen sich dauernd änderten. Der Kollege, der diesen Mose-Effekt definierte, hat mich als Mensch sehr beeindruckt. Er ist Christ (daher die Bibelkenntnis) und seit dem Alter von 17 Jahren vom Hals an querschnittsgelähmt (ähnlich wie Samuel Koch). Er hat mit diesem Handicap Physik studiert und ist Professor in Houston geworden. Die Computertastatur bedient er mit einem Stift, den er im Mund führt. Wenn ich mich dabei ertappe, mich über kleine gesundheitliche Einschränkungen ärgern zu wollen, muss ich oft an ihn denken… Als ich ihn vor ca. 25 Jahren auf einem Workshop kennenlernte, fragte ich ihn, wie er zum Glauben kam. Er antwortete, dass die Schönheit und Komplexität der Natur, insbesondere der Lebewesen, ihm deutlich machte, dass es einen Schöpfer geben muss.

Die Bezeichnung „Mose-Effekt“ gibt es außerdem auch in einem anderen Gebiet der Physik, wo er eine andere Bedeutung hat. Dieser andere Mose-Effekt bezieht sich nicht auf Zeitverläufe von Daten, sondern auf eine bestimmte Sorte magnetischer Flüssigkeiten, die eine tiefe Delle an ihrer Oberfläche bekommen, wenn ein Magnetfeld eingeschaltet wird. Dies erinnert an die Geschichte vom Durchzug der Israeliten durch das Schilfmeer: Das Meer teilte sich, als Mose mit den Israeliten aus Ägypten floh.

Und auch hiermit ist die Liste biblischer Effekte in der Wissenschaft nicht erschöpft. Sehr bekannt ist noch der „Matthäus-Effekt“, der das Phänomen „Wer hat, dem wird gegeben“ beschreibt. Diese Aussage steht im Matthäus-Evangelium in dem Gleichnis von den anvertrauten Talenten (Mt. 25,29). Dieser Effekt wurde zuerst in den 1960er Jahren vom Soziologen Robert K. Merton beschrieben und bezog sich ursprünglich darauf, dass manche Wissenschaftler sehr viel häufiger zitiert werden als andere, selbst wenn deren Publikationen genauso gut sind. Wer schon bekannter ist, bekommt mehr Aufmerksamkeit und hat es leichter, noch mehr Erfolge anzuhäufen. Und manche Personen haben es von vorneherein leichter, in der Wissenschaft bekannt zu werden als andere. Selbst heute noch ist es von Vorteil, von weißer Hautfarbe und männlich zu sein und an einer Eliteuniversität, bevorzugt in den USA, sein Studium abgeschlossen zu haben. Doch es wird immer mehr unternommen, um der Ungleichbehandlung von bekannten und weniger bekannten Wissenschaftlern entgegenzuwirken. Einige Fachzeitschriften haben inzwischen die doppelt blinde Begutachtung von eingereichten Manuskripten eingeführt, bei der die Gutachter nicht wissen, wer die Autoren sind, und umgekehrt. Damit habe ich in den letzten Jahren als Autorin gute Erfahrungen gemacht. Auch als Gutachterin spüre ich den positiven Effekt der doppelt blinden Begutachtung, denn ich konzentriere ich mich viel stärker auf den Inhalt des Manuskripts, wenn ich nicht schon durch den Namen oder die Heimatuniversität der Autoren eine gewisse Erwartung über die Qualität des Manuskripts habe.

In der 12. Schulklasse hatte ich einen Deutschlehrer, der uns nahelegte, die Bibel zu lesen, weil man sonst die klassische deutsche Literatur nicht verstehen kann. Die in diesem Blogbeitrag beschriebenen Effekte zeigen, dass es sogar in der Wissenschaft nützlich ist, die Bibel zu kennen, da man sonst die in den Bezeichnungen versteckten Anspielungen nicht versteht. Dass ich darüber hinaus sowieso jedem wärmstens empfehle, die Bibel zu lesen, wird die Leserinnen und Leser meines Blogs nicht überraschen…

Hinweise: Wer noch mehr biblische Effekte kennenlernen will, kann nach dem David-Goliath-Effekt und dem Paulus-Effekt googeln.

Eine Liste aller bisherigen Blogeinträge befindet sich hier.

Beliebte Posts aus diesem Blog

Wie alt wurden Noah, Jakob und Mose?

Eine Art Dreikampf

Am dritten Tage auferstanden von den Toten

Long Covid

Harald Lesch und die Frage nach Gott