„Verlass dich nicht auf deinen Verstand!“

Das Buch der Sprüche in der Bibel enthält viele Weisheiten, und deshalb lese ich es gerne. Doch über einen Vers stolpere ich immer wieder. Er steht im Kapitel 3: „Verlass dich auf den Herrn von ganzen Herzen, und verlass dich nicht auf deinen Verstand“. Wie ist das gemeint? Der Verstand ist uns doch von Gott gegeben! Mit seiner Hilfe erforschen wir die Welt und gestalten unser Leben.

Man kann diesen Bibelvers leicht missbrauchen: Der Chef, den ich in den 1990er Jahren in den USA hatte, war der Meinung, Christsein bedeute, dass man seinen Verstand abschalten und blind das glauben müsse, was die Kirche einem erzählt. Passend dazu habe ich schon von Mitchristen zu hören bekommen, dass man nicht den wissenschaftlichen Einsichten über die Geschichte der Erde und des Universums vertrauen dürfe, da der durch die Sünde verblendete Verstand nicht die Wahrheit erkennen könne. Man solle stattdessen der Bibel vertrauen.

Auf der anderen Seite fallen mir Menschen ein, denen ich gerne raten würde, sich weniger auf ihren Verstand zu verlassen, weil er sie irreleitet: Ein Ingenieur, der meint, eine Alternative zu Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie erdacht und damit gezeigt zu haben, dass Gott das Weltall geschaffen hat; Ein Handwerker, der Traktate schreibt, in denen er die Ideen eines Pseudowissenschaftlers anführt, um den christlichen Glauben zu belegen; ein Musiker, der sich in seiner Freizeit mit dem hebräischen Bibeltext befasste und darin die Expansion des Universums und die Kontinentaldrift zu finden meinte.

Als mein Vater noch lebte, hatte ich mit ihm öfters Diskussionen über den Gebrauch des Verstands. Mein Vater war ein sehr intelligenter und scharfsinniger Mensch, dessen Urteil man in vielen Fällen vertrauen konnte. Durch den Laienpredigerkurs der evangelisch-methodistischen Kirche wurde er dazu animiert, sich mit theologischer Literatur zu befassen. Je mehr er las, desto mehr wurde er verärgert über diejenigen Theologen, die bei ihrer Auslegung der Bibel von vorneherein die Möglichkeit von Wundern oder echter Prophetie ausschlossen. In den Augen meines Vaters vertrauten diese Personen zu sehr ihrem Verstand, und er warnte auch mich davor, den Ergebnissen meines Nachdenkens zu sehr zu vertrauen. Ich versuchte zu kontern, dass es der falsche Gebrauch des Verstandes sei, der einen in die Irre führt, und nicht der Gebrauch des Verstandes an sich. Wer von falschen Denkvoraussetzungen ausgeht, landet bei falschen Schlussfolgerungen. Wer seine Denkvoraussetzungen hinterfragen lässt und anhand verfügbarer Belege überprüft, sollte im Laufe der Zeit zu gültigen Erkenntnissen kommen. Es gebe gute Gründe, an Wunder und Prophetie zu glauben.

Doch leider ist dies alles nicht so einfach. Es ist unmöglich, sich alle seine Denkvoraussetzungen und Einseitigkeiten bewusst zu machen. Wir alle sind abhängig von unserer Erziehung, unserer Kultur und unseren unbewussten, nicht rationalen Befindlichkeiten. Wenn wir offen für Korrektur sind und uns möglichst vielen und verschiedenartigen Informationen und Meinungen aussetzen, stehen die Chancen besser, dass unser Denken dort, wo es fehlgeleitet ist, korrigiert wird. Doch die Gewissheit, dass wir mit unseren Schlussfolgerungen richtig liegen, bekommen wir dabei nie.

Dies bringt mich zurück zum eingangs zitierten Bibelvers: Er erinnert mich an meine Abhängigkeit von Gott. Gott gibt mir das Leben und die Fähigkeit zu denken, und Er kann meine Lebensumstände so lenken, dass ich Korrektur erfahre und vor Hochmut bewahrt werde. Darauf bin ich und darauf ist jeder andere Mensch angewiesen. Doch der Bibelvers sagt noch viel mehr: Beim Sich-auf-Gott-Verlassen geht es nicht in erster Linie um theoretische Einsichten, sondern um die praktische Lebensbewältigung: Der Vers lautet vollständig: „Verlass dich auf den Herrn von ganzen Herzen, und verlass dich nicht auf deinen Verstand, sondern gedenke an Ihn in allen deinen Wegen, so wird Er dich recht führen“. Wir können noch so viel nachdenken und planen, wenn wir wichtige Lebensentscheidungen zu fällen oder auch nur unseren Alltag zu bewältigen haben. Die Unberechenbarkeiten der Zukunft bekommen wir dadurch nicht in den Griff. Wie gut, dass man sich dem anvertrauen kann, der die Zukunft in seiner Hand hält. Dabei können wir so manches erleben, was sich unser Verstand vorher nicht ausmalen konnte. Und das bringt mich zu zwei weiteren Bibelversen, die den obigen Vers gut ergänzen: Eph. 3,20: „Gott kann überschwenglich tun über alles hinaus, was wir bitten oder verstehen“ und Phil. 4,7: „Der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft,…“

Gott übersteigt also unseren Verstand, doch an ihn zu glauben und ihm zu vertrauen, geht nicht gegen den Verstand. Den Verstand darf ich als Gottes Gabe freudig gebrauchen, im Vertrauen darauf, dass Gott mich führen und korrigieren wird, wo ich es brauche.


Hinweise: Thematisch verwandt ist der Blogbeitrag „Erkenne die Grenzen deines Wissens“. Eine Liste aller bisherigen Blogeinträge befindet sich hier.

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