Schrödingers Katze

Bestimmt haben Sie schon von Schrödingers Katze gehört, die gleichzeitig tot und lebendig ist. Diese Vorstellung geht auf ein Gedankenexperiment zurück, das der Physiker Erwin Schrödinger im Jahr 1935 vorschlug, um die paradoxen Seiten der Quantenmechanik aufzuzeigen. Auf der Wikipedia-Seite zu Schrödingers Katze findet man das Originalzitat:

Man kann auch ganz burleske Fälle konstruieren. Eine Katze wird in eine Stahlkammer gesperrt, zusammen mit folgender Höllenmaschine (die man gegen den direkten Zugriff der Katze sichern muß): in einem Geigerschen Zählrohr befindet sich eine winzige Menge radioaktiver Substanz, so wenig, daß im Laufe einer Stunde vielleicht eines von den Atomen zerfällt, ebenso wahrscheinlich aber auch keines; geschieht es, so spricht das Zählrohr an und betätigt über ein Relais ein Hämmerchen, das ein Kölbchen mit Blausäure zertrümmert. Hat man dieses ganze System eine Stunde lang sich selbst überlassen, so wird man sich sagen, daß die Katze noch lebt, wenn inzwischen kein Atom zerfallen ist. Der erste Atomzerfall würde sie vergiftet haben. Die Psi-Funktion des ganzen Systems würde das so zum Ausdruck bringen, daß in ihr die lebende und die tote Katze (s.v.v.) zu gleichen Teilen gemischt oder verschmiert sind.“

Der Grund für dieses paradoxe Resultat liegt darin, dass die Quantenmechanik Objekte als Wellenfunktion (im obigen Zitat als „Psi-Funktion“ bezeichnet) beschreibt. Die zeitliche Änderung einer Wellenfunktion erhält man mit Hilfe der sogenannten Schrödinger-Gleichung. Diese Gleichung besagt, dass Wellenfunktionen ähnlich wie Licht- oder Wasserwellen Interferenzmuster zeigen und an einem Spalt gebeugt werden. Für Elementarteilchen, Atome und Makromoleküle kann man diese Effekte in Experimenten zeigen. Wenn man zwei Wellenfunktionen addiert, von denen jede der Schrödingergleichung gehorcht, tut dies die Summe auch. Im obigen Gedankenexperiment werden auch zwei Wellenfunktionen addiert: Eine, die ein in der betrachteten Zeit nicht zerfallendes Atom und damit eine lebendig bleibende Katze beschreibt, und eine, die ein zerfallendes Atom und folglich eine getötete Katze beschreibt. Für ein Atom ist die Überlagerung zwischen „zerfallen“ und „nicht zerfallen“ tatsächlich möglich; solche Überlagerungen wurden schon beobachtet. Die daraus resultierende Überlagerung der lebendigen und toten Katze ergibt sich, wenn man meint, dass die Formeln der Quantenmechanik auch für Katzen gelten.

Schrödingers Katze ist ein Beispiel für das sogenannte „Messproblem der Quantenmechanik“: Wenn wir ein Quantenobjekt beobachten oder „messen“, ändert sich der Zustand des Objekts so, dass das Ergebnis der Messung immer eindeutig ist und nicht eine Überlagerung. Wenn wir z.B. die Stahlkammer öffnen, in der das Katzenexperiment stattfindet, beobachten wir eindeutig eine lebendige oder eine tote Katze. Um zu erklären, warum dies so ist, gibt es viele verschiedene „Interpretationen“ der Quantenmechanik. Sie haben vielleicht schon einmal von der Idee gehört, dass unser Bewusstsein für den Zusammenbruch der Überlagerung (man nennt das auch „Kollaps der Wellenfunktion“) sorgt. Das würde bedeuten, dass die Katze erst dann eindeutig lebendig oder tot ist, wenn wir dies nachprüfen. Diese Interpretation ist für mich inakzeptabel, da sie den Glauben an eine objektive Realität aufgibt, die unabhängig von uns existiert. Sie würde z.B. auch bedeuten, dass der Mond erst, seit Menschen ihn anschauen, seine eindeutige Bahn über den Himmel zieht, oder dass die verschiedenen Fossilien erst dann eindeutig an ihrem jeweiligen Fundort zu liegen kommen, wenn wir sie entdecken.

Noch verrückter als diese Interpretation der Quantenmechanik sind solche Interpretationen, die ganz abstreiten, dass es einen „Kollaps“ gibt. Die Vertreter dieser Interpretationen meinen, dass die tatsächliche Wellenfunktion eine immer hochgradigere Überlagerung von immer mehr möglichen Beobachtungsergebnissen ist. In der „Viele-Welten-Interpretation“ entstehen bei jeder Messung neue Welten, und in jeder dieser Welten tritt eines dieser möglichen Ergebnisse auf. Alles, was in Prinzip passieren kann, passiert in irgendeiner dieser Welten. Die Wellenfunktion des Universums beschreibt alle diese Welten gleichzeitig. Unser Bewusstsein allerdings findet sich jeweils nur in einer dieser Welten wieder (und eine Kopie von uns müsste dann in jeder der möglichen anderen Welten sein...).

Auch die relationale Interpretation geht davon aus, dass die Quantenmechanik die korrekte mathematische Beschreibung für makroskopische Objekte wie Katzen und Messgeräte darstellt. Aussagen über den Zustand der Katze oder den Ausgang einer Messung seien allerdings nur relativ zu einem Beobachter gültig und nicht absolut. Eine objektive, vom Beobachtern unabhängige Realität gibt es gemäß dieser Interpretation nicht.

Eine aus meiner Sicht viel vernünftigere Interpretation, die nicht die Existenz einer objektiven Realität leugnet, liefern die sogenannten „Kollaps-Modelle“. Hier wird der Schrödinger-Gleichung eine zufällige Komponente hinzugefügt, so dass Wellenfunktionen spontan kollabieren, und das umso häufiger, je größer das Objekt ist. So große Objekte wie Messgeräte und Katzen sind folglich nie in unrealistischen Überlagerungen zu finden, während einzelne Atome fast immer der gewohnten Schrödinger-Gleichung folgen. Bisher war allerdings noch kein experimenteller Test dieser Theorien erfolgreich.

Doch selbst mit diesen Kollaps-Modellen kann ich mich nicht vollständig anfreunden. Der Grund ist, dass sie genau wie die anderen erwähnten Interpretationen davon ausgehen, dass es eine Gleichung oder einen Satz von Gleichungen gibt, die die gesamte physikalische Realität exakt und vollständig beschreiben. Die Vertreter der Kollaps-Modelle sind noch auf der Suche nach dieser Gleichung, während die Vertreter der Viele-Welten-Theorie meinen, wir haben schon die richtige mathematische Beschreibung.

Man nennt diesen Glauben, dass die gesamte physikalische Realität durch wenige Gleichungen erfasst werden kann, Reduktionismus. Alles, was in der physikalischen Welt geschieht, wird ‚reduziert‘ auf ein paar Gleichungen. Diese Gleichungen beschreiben alle Veränderungen in der materiellen Welt. Doch es gibt gewichtige Argumente gegen den Reduktionismus: Erstens sind alle unsere Theorien und Gleichungen nur vereinfachte, idealisierte Beschreibungen der Realität und kein exaktes Abbild. Wir können für jede Gleichung Gültigkeitsgrenzen angeben, und natürlich auch für die Schrödinger-Gleichung. (Für Experten: Die Schrödinger-Gleichung gilt nur nichtrelativistisch; sie vernachlässigt die Absorption und Emission von Strahlung und die Erzeugung und Vernichtung von Teilchen; sie steht im Widerspruch zu dem, was wir bei einer Messung beobachten; …) Zweitens wird in der Praxis nie vollständig reduktionistisch gearbeitet. In den vergangenen Jahren habe ich oft die Vorlesung zur theoretischen Festkörperphysik gehalten. Hier werden Eigenschaften von Festkörpern wie z.B. die Leitfähigkeit, Magnetismus und Supraleitung durch quantenphysikalische Theorien beschrieben. Diese Theorien beginnen aber nie bei der Schrödinger-Gleichung für alle Atome des Festkörpers, sondern sie beruhen auf anderen Ideen, die dem betrachteten Problem angepasst sind. Drittens ignoriert (oder leugnet) der Reduktionismus, dass es Einflüsse von jenseits der Physik auf physikalische Objekte gibt, sogar aus der geistigen Welt. Wenn wir Entscheidungen fällen, eine neue Maschine erfinden, einen Text schreiben oder Verkehrsregel erlassen, wirkt sich dieses zunächst geistige Geschehen in der materiellen Welt konkret aus.

Statt die fundamentale Theorie von Allem zu sein, zeigt uns die Quantenmechanik durch das „Messproblem“, dass sie wesensmäßig unvollständig ist: Das Verhalten eines Quantenobjekts ist abhängig von seinem Kontext. Nur wenn wir ein Quantenobjekt genügend von allen äußeren Einflüssen isolieren, verhält es sich so, wie es die Schrödinger-Gleichung vorhersagt. Das macht den Bau von Quantencomputern so herausfordernd: Man muss sie stark kühlen, damit die unkontrollierbaren thermischen Fluktuationen nicht das Quantenverhalten zerstören. Ein Messapparat stellt ebenfalls einen äußeren Einfluss auf das Quantenobjekt da. Der Messapparat bestimmt, welche Eigenschaft des Quantenobjekts gemessen wird und was folglich die möglichen Messergebnisse sind. Der Glaube, dass der Messapparat selbst durch die Quantenmechanik beschreibbar ist, ist das Ergebnis eines reduktionistischen Vorurteils und nicht empirisch begründet.

Ähnlich verhält es sich mit Schrödingers Katze und sogar mit der gesamten „Höllenmaschine“, bestehend aus Geigerzähler, Hammer und Blausäuregefäß. All diese Dinge sind „makroskopisch“ groß (also für das bloße Auge gut sichtbar) und zudem noch auf Raumtemperatur. Sie werden durch die klassische Physik und nicht durch die Quantenphysik beschrieben; ich sehe keinen Grund, warum sie durch die Schrödinger-Gleichung beschreibbar sein sollten. Das bedeutet, dass die Katze natürlich längst eindeutig tot (oder lebendig) ist, bevor wir nachschauen. Der Geigerzähler hat eindeutig einen Atomzerfall registriert (bzw. eindeutig keinen Atomzerfall), und entsprechend hat der Hammer das Gefäß zerschlagen (bzw. nicht zerschlagen). Und längst bevor es Menschen gab, kreiste der Mond auf seiner mit klassischer Physik beschreibbaren Bahn um die Erde.

In den vergangenen Jahren findet das Forschungsgebiet der „offenen Quantensysteme“ zunehmendes Interesse. Hier wird ein Quantensystem nicht isoliert betrachtet, sondern als Teil einer größeren Umgebung. Durch den Einfluss dieser Umgebung wird das Quantensystem nicht länger durch die Schrödinger-Gleichung beschrieben, sondern durch eine abgewandelte Gleichung, die den Einfluss der Umgebung berücksichtigt. Wenn die Umgebung anders ist, ist also auch die Gleichung anders, die das Quantensystem beschreibt. Freilich gibt es Physiker, die glauben, dass dies nur ein pragmatisches Vorgehen sei, und dass „in Wirklichkeit“ die Umgebung ebenfalls der Quantenmechanik gehorche. Das reduktionistische Vorurteil sitzt noch sehr tief… Doch ich bin zuversichtlich, dass die weitere Forschung zu offenen Quantensystemen einen echten Fortschritt bringen wird. Sie wird mit der Zeit die bisher dominierende reduktionistische Auffassung immer mehr unterhöhlen. Das „Messproblem“ wird irgendwann als Scheinproblem entlarvt werden, das sich nur dann ergibt, wenn man vergisst, dass Quantensysteme dem Einfluss ihrer weiteren Umgebung ausgesetzt sind, und dass diese Umgebung nicht rein quantenmechanisch beschrieben werden kann.

Übrigens: Schrödinger besaß wirklich eine Katze; ihr Name war Milton.

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