Die unerwartete Antwort des berühmten Professors

Als vorletztes Jahr die Nachricht über den Tod des bekannten Physikers und Ökologen Robert May bekannt wurde, kehrten meine Gedanken zurück zu einem Erlebnis, das ich im Jahr 2003 mit diesem prominenten Wissenschaftler hatte. Da er einer der großen Namen in der theoretischen Ökologie ist und seine Publikationen in Lehrbücher eingegangen sind, kamen mehrere tausend Personen zu einem Vortrag, den er auf einer Konferenz in Leeds hielt. Ich saß im Publikum und fühlte mich zunehmend unwohler. Er sprach weniger über die ökologische Forschung als über die Notwendigkeit, der Öffentlichkeit naturwissenschaftliche Erkenntnisse nahezubringen. Als ehemaliger Berater der britischen Regierung in wissenschaftlichen Fragen war ihm dies verständlicher Weise ein großes Anliegen. Er zeigte Ergebnisse von Umfragen in verschiedenen Ländern Europas, in denen die Kenntnisse grundlegender wissenschaftlicher Fakten untersucht wurden. Ich erinnere mich noch daran, dass die Leute u.a. gefragt wurden, ob sie der Aussage zustimmen, dass genetisch modifizierte Tomaten Gene enthalten, aber normale Tomaten nicht. Wir Deutschen schnitten bei dieser Frage besonders schlecht ab…. (Leider weiß ich nicht mehr den Prozentsatz von Ja-Antworten, es dürften mindestens 30% gewesen sein.)

Bis dahin konnte ich noch gut mit dem Vortrag mitgehen. Doch dann wandte sich seine Kritik an wissenschaftlicher Ignoranz insbesondere gegen Christen und alle, die an Gott als Schöpfer glauben. Er warf ihnen vor, die wissenschaftlichen Erkenntnisse über Evolution abzulehnen. Er vermittelte mit seinen Worten den Eindruck, dass Wissenschaft und Glaube einander widersprechen und dass der Glaube durch die Wissenschaft überholt sei. Damit brüskierte er bestimmt nicht nur mich, sondern auch andere Leute im Publikum. Leider hatte ich nicht den Mut, mich direkt im Anschluss an den Vortrag zu Wort zu melden. Doch ich beschloss, ihm eine Email zu schreiben, da ein solcher Vortrag nicht widerspruchslos hingenommen werden sollte. Ich rechnete nicht damit, von ihm eine Antwort zu bekommen, doch ich sollte überrascht werden. Meine Email lautete (ins Deutsche übersetzt) folgendermaßen:


Sehr geehrter Herr Professor May,

Ihr Vortrag letzte Woche hat mir weitgehend sehr gut gefallen. Insbesondere teile ich ihre Besorgnis darüber, dass die breite Bevölkerung so wenig Wissen über bestimmte wissenschaftliche Erkenntnisse hat und sie so wenig akzeptiert. (Mir war nicht bewusst, dass Deutschland hier ein besonders schlechtes Bild abgibt, zumindest wenn es um genetische modifizierte Nahrungsmittel geht….)

Aber Ihre Polemik gegen Religion und den Glauben an Gott ging in meinen Augen zu weit. Von der wissenschaftlichen Tatsache, dass die Menschen und die anderen Lebewesen gemeinsame Vorfahren haben und dass wir viel über diesen evolutionären Prozess verstehen, sprangen Sie zu der Schlussfolgerung, dass wir Menschen nicht geplant sind und dass es keinen Schöpfer geben kann.

Bitte erlauben Sie mir, auf zwei Dinge hinzuweisen (die Sie gewiss auch schon von anderen Personen gehört haben, denn ich weiß mich in guter Gesellschaft):

1. Die Frage, welche Prozesse und Mechanismen zu dem heutigen Universum geführt haben, darf nicht vermischt werden mit der Frage, ob eine Intelligenz und ein Wille dahinterstecken. Wenn wir einen Prozess verstehen, durch den etwas entsteht, folgt daraus nicht logischerweise, dass der Prozess „von alleine“ abläuft, also ohne jemandes Absicht und Leitung.

2. Es gibt sehr viele Wissenschaftler, die alle etablierten wissenschaftlichen Erkenntnisse akzeptieren und dennoch gute Gründe dafür anführen können, dass es einen Gott gibt. Der Junge-Erde-Kreationismus (über den ich mich genauso sehr ärgere wie Sie) ist eine Minderheitensicht unter Christen und wird nur von sehr wenigen christlichen Wissenschaftlern akzeptiert (und insbesondere nicht von Top-Wissenschaftlern). Die Kirchengeschichte und die Wissenschaftsgeschichte sind voll von Beispielen großer Denker, die gleichzeitig gute Wissenschaft gemacht haben und einen starken Glauben an Gott hatten. Sie waren der Auffassung, dass diese beiden Dinge sich sehr gut ergänzen.

Wissenschaftlich ungebildete oder fanatische Leute, die nicht willens oder fähig sind, gründlich nachzudenken und klare Belege anzuerkennen, gibt es in Kirchen genauso wie an allen anderen Orten (und sie frustrieren mich sehr). Aber Sie sollten Ihre Sicht über Religion nicht durch diese Leute prägen lassen, sondern durch ihre besten Vertreter.

Mit freundlichen Grüßen

Barbara Drossel.

P.S. Da Sie mich nicht kennen: Ich bin Professorin für Theoretische Physik an der Technischen Universität Darmstadt in Deutschland. Ich forsche an der Modellierung von Evolution, von Nahrungsnetzen und Genregulationsnetzwerken (neben „richtigen“ physikalischen Forschungsprojekten).


Drei Wochen später erhielt ich die folgende Antwort:

Sehr geehrte Frau Professor Drossel,

Vielen Dank für Ihre gedankenvolle Email vom 25. August. Es tut mir sehr leid, dass ich nicht früher geantwortet habe, aber wie Sie vielleicht wissen, reiste ich direkt nach dem Meeting in Leeds nach Australien ab, wo ich keine Emails las. Ich bin eben erst am 12. September aus Australien zurückgekehrt (und habe an diesem Tag diese Nachricht diktiert), daher die Verzögerung.

Ich erkenne die Punkte an, die Sie machen. Der einzige kleine Punkt, den ich anmerken möchte, ist dass ich nicht nur Christen meinte, sondern alle, die fundamentalistische religiöse Ansichten vertreten. Diese Kategorie ist zugleich breiter und enger als „Christen“. Sie ist viel weiter, weil sie einen viel größeren Teil der Weltbevölkerung umfasst, nämlich in den fundamentalistischen Sekten nichtchristlicher Religionen. Sie ist enger in dem Sinn, dass sie unter Christen nur eine Minderheit umfasst – wie Sie anmerken. Diese christliche Minderheit ist aber nicht so klein, wie Sie vielleicht denken: es gibt Umfragen, die zeigen dass ungefähr 40% der Leute in den USA biblische Literalisten sind (im Unterschied zu 90%, die an Gott glauben); 40% sind keine kleine Minderheit!

Um aber zu Ihrem Hauptpunkt zurückzukommen: Ich weiß Ihren gedankenvollen Brief sehr zu schätzen und habe die Punkte, die Sie machen, aufgenommen.

Mit besten Grüßen

Robert May

Diese Antwort hat mich tief beeindruckt: Er schrieb respektvoll und war bereit zuzugestehen, dass ich in meinem Hauptpunkt recht hatte. Dass sich ein so berühmter Mann die Zeit nimmt, auf Zuschriften zu antworten, ist ungewöhnlich. Ebenso ungewöhnlich ist auch seine Offenheit für Kritik. Seine Ehrlichkeit und Umgänglichkeit wurden in den Nachrufen auch besonders hervorgehoben. Wer einen Eindruck von dieser interessanten Persönlichkeit bekommen möchte, kann den Nachruf des „Sydney Morning Herald" aus seiner australischen Heimat lesen oder die persönlichen Erinnerungen von Mitarbeitern des Zoologie-Departments der Universität Oxford. 

 

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