Wir sind eine Familie

Stellen Sie sich vor, Sie machen eine Zeitreise zurück in das Jahr 3000 v. Chr. und betreten irgendwo auf der Erde ein Dorf. Der erste Mensch, der Ihnen dort begegnet, ist wahrscheinlich einer Ihrer vielen Vorfahren. Unabhängig von ihrer Sprache und Hautfarbe haben alle heute lebenden Menschen gemeinsame Vorfahren, die Reis an den Ufern des Janktsekiang pflanzten, die die ersten Pferde in der Steppe der Ukraine domestizierten, die in Nord- und Südamerika Riesenfaultiere jagten und die an den Pyramiden von Gizeh bauten. Diese verblüffende Erkenntnis ergibt sich aus einem mathematischen Modell von Wissenschaftlern am MIT und der Yale University.

Eine ganz naive Überlegung zeigt, dass dies gar nicht unplausibel ist: Jeder von uns hat zwei Eltern, vier Großeltern, acht Urgroßeltern etc. Zehn Generationen zurück haben wir also schon gut tausend Vorfahren, zwanzig Generation (ca. 500 Jahre) zurück eine Million und vierzig Generationen (ca. 1000 Jahre) zurück eine Billion Vorfahren – Halt! Das geht natürlich nicht, so viele Menschen lebten nie auf der Erde. Die Überlegung stimmt nicht, weil der Vorfahrenbaum sich nicht einfach immer weiter verzweigt, sondern Zweige auch miteinander verschmelzen. Mein Ur-Ur-Ur-Urgroßvater väterlicherseits könnte ja mit dem Vater meiner Ur-Ur-Urgroßmutter mütterlicherseits identisch gewesen sein. Aber eines zeigt die Überlegung trotzdem: die Zahl unserer Vorfahren wird riesig, wenn wir hunderte von Jahren zurückgehen. Unter ihnen könnte ein nach Europa verschleppter afrikanischer Sklave, eine vor langer Zeit nach Europa ausgewanderte Chinesin und eine Azteken-Frau sein, mit der ein spanischer Eroberer ein Kind zeugte, das später mit seinem Vater nach Spanien zurückkehrte. So wird es möglich, dass irgendwo in der Vergangenheit ein Zeitpunkt liegt, zu dem es einen gemeinsamen Vorfahren aller heute lebenden Menschen gibt. Je weiter wir zurückgehen, desto mehr gemeinsame Vorfahren aller heute lebenden Menschen gibt es. Schließlich stoßen wir auf einen Zeitpunkt, zu dem alle damals lebenden Menschen nur noch in zwei Kategorien fallen: entweder sind sie Vorfahren aller heute lebenden Menschen, oder sie sind Vorfahren keines heute lebenden Menschen (z.B. wenn sie kinder- oder enkellos starben).

Das erwähnte mathematische Modell kommt zu der Abschätzung, dass es noch vor ca. 2300 Jahren einen gemeinsamen Vorfahren aller heute lebenden Menschen gab. Weiter schätzen die Autoren, dass vor ca. 5000 Jahren der Zeitpunkt war, vor dem jeder Mensch entweder Vorfahre aller heutigen Menschen (zu 80 Prozent) oder keines heutigen Menschen (zu 20 Prozent) war. Bei ihren Berechnungen berücksichtigten die Autoren, dass die meisten Menschen innerhalb ihrer Bevölkerungsgruppe heirateten und dass nur wenige in eine andere Gruppe wanderten. Sie bezogen wichtige historische Informationen über vergangene Bevölkerungszahlen und Geburtenraten, die Kolonisation von Nord- und Südamerika sowie Australien, die Migration durch die Beringstraße, den Bevölkerungsschwund durch Seuchen und weitere Einzelheiten mit in die Überlegungen ein. Dort, wo Zahlen unsicher sind, untersuchten sie, wie sich die Ergebnisse ändern, wenn man diese Zahlen ändert. Die beiden Zeitpunkte verschieben sich dann. Es bleibt aber dabei, dass vor einigen tausend Jahren ein gemeinsamer Vorfahre aller heutigen Menschen lebte und dass vor ungefähr der doppelten Zeit alle damals lebenden Menschen, deren Nachfahren nicht ausstarben, gemeinsame Vorfahren aller heute lebenden Menschen sind.

Als im letzten Jahr die Biographie von Armin Laschet erschien, fand ein Ergebnis der Ahnenforschung der Familie Laschet den Weg in die Presse: Die Familie Laschet ist überzeugt, dass sie in direkter Linie von Karl dem Großen abstammt. Naja – vielleicht ist das ja gar nicht so besonders angesichts der obigen Überlegungen. Die Zahl der Vorfahren, die jeder von uns hat, wenn man 1200 Jahre zurückgeht, ist riesig. Die Chancen stehen also gut, dass Karl der Große auch dabei ist. Immerhin hatte Karl der Große 18 legitime Kinder von 5 Frauen und eine Reihe unehelicher Kinder von mindestens einem Dutzend Geliebten. Mein Vater erzählte, dass seine Tante bei ihrer Ahnenforschung irgendwann auf einen unehelichen Sohn Karls des Großen stieß. Also bin ich auch eine Nachfahrin Karls des Großen, wenn auch keine legitime...

Heißt das, dass ich auch Gene Karls des Großen in mir habe? Die Chancen hierfür sind recht gering. Mit jeder Generation verringert sich ja die Zahl der Gene, die von einem bestimmten Vorfahren kommen, ungefähr auf die Hälfte – es sei denn beide Eltern haben Gene von diesem Vorfahren geerbt. Dies bringt uns auf die nächste spannende Frage: Wie sieht der Stammbaum eines meiner Gene aus, z.B. eines meiner OCA2-Gene, die meine Augenfarbe beeinflussen? Dieses bestimmte OCA2-Gen habe ich entweder von meinem Vater oder von meiner Mutter geerbt, die es jeweils auch nur von einem Elternteil geerbt haben. Wie lange müssen wir in der Zeit zurückgehen, bis wir ein Gen finden, das der Vorfahre aller heute existierenden OCA2-Gene ist? Viel weiter als für den letzten gemeinsamen Vorfahren aller Menschen. Am genauesten hat man solche genetischen Stammbäume für das X- und das Y-Chromosom untersucht. Das Y-Chromosom wird ausschließlich von Mann zu Mann vererbt. Frauen haben kein Y-Chromosom. Modellrechnungen, basierend auf den Unterschieden der Y-Chromosomen heute lebender Männer sowie der Häufigkeit von Mutationen, ergeben, dass der Vorfahre, auf dessen Y-Chromosom dasjenige aller heute lebenden Männer zurückgeht, vor ungefähr 200.000 Jahren lebte. Die Schätzungen schwanken zwischen 120.000 und 300.000 Jahren. Man nennt ihn den Adam des Y-Chromosoms. Er war nicht der einzige damals lebende Mann, aber der einzige, dessen Y-Chromosom sich bis heute vererbt hat. Um für die weibliche Abstammungslinie eine analoge Schätzung zu machen, benötigen wir Gene, die ausschließlich von Frauen vererbt werden. Dies sind die Gene in den Energiemaschinen unserer Zellen, den Mitochondrien. Das Ergebnis ist, dass die mitochondriale Eva vor 100.000 bis 200.000 Jahren lebte, also wahrscheinlich später als der Adam des Y-Chromosoms. Die mitochondriale Eva war nicht die einzige damals lebende Frau, und sie war höchstwahrscheinlich auch nicht mit dem Adam des Y-Chromosoms liiert. Aber sie ist die einzige damals lebende Frau, deren Mitochondrien sich bis heute vererbt haben.

Was bedeutet dies alles im Vergleich mit dem christlichen Menschenbild? Wenn wir alle von gemeinsamen Vorfahren abstammen, die vor ca. 5000 Jahren lebten, sind wir eine große weltweite Familie. Wir sind viel enger miteinander verwandt, als man dies oft meinte. Dies passt gut zur biblischen Überlieferung, die die Völker der Erde als Nachfahren desselben Menschenpaares darstellt (1. Mose 10, Apg. 17,26). Auch wenn es zu keiner Zeit nur zwei Menschen gab und die Geschichte von Adam und Eva wohl bildlich zu verstehen ist, vermittelt sie genau die richtige Botschaft: Wir Menschen sind von Gott als eine eng verwandte Familie geschaffen. Wir sind alle gleich wertvoll und gleich geliebt von Gott. Wir teilen alle das gemeinsame Schicksal der Entfremdung von Gott. Die Bibel erzählt im weiteren Verlauf davon, dass Gottes Plan zur Heilung dieser Entfremdung ebenfalls allen Menschen gilt. Alle, die Christus angenommen haben, erben Gottes Reich und das ewige Leben, unabhängig von Ethnie, gesellschaftlichem Status und Geschlecht (Gal. 3,28).

Die Forschungsergebnisse, auf die sich dieser Blogbeitrag hauptsächlich bezieht, sind aus einem Artikel in der Zeitschrift Nature entnommen und einer dazu gehörenden Besprechung. Wer keinen Zugriff auf den Artikel hat, kann das PDF auf dieser Seite finden.

Eine Liste aller bisherigen Blogeinträge befindet sich hier. Sie enthält u.a. Beiträge zu Adam und Eva (16.1.2021), zur Abstammung des Menschen von Affen (9.1.21) und zur Auffassung des Apostels Paulus über Adam (3.4.2021).

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