Geboren von der Jungfrau Maria

Vor einigen Jahren bekam ich eine Email von einem Chemie-Professor, der mich fragte, ob ich an die Jungfrauengeburt Jesu glaube, und wenn Ja, wie ich sie erkläre. Ich dachte eine Weile nach, bevor ich die Antwort schrieb. Vieles schwirrte durch meinen Kopf: Die Jungfrauengeburt Jesu als tatsächliches Ereignis wird von noch weniger Theologen vertreten als die leibliche Auferstehung Jesu. Man ordnet sie meist in den Bereich des Mythischen ein oder versteht sie als Metapher. Man sagt, die frühe Kirche wollte mit der Jungfrauengeburt den göttlichen Ursprung Jesu ausdrücken. Nur zwei der vier Evangelien (Matthäus und Lukas) erwähnen die Jungfrauengeburt überhaupt. Bei Johannes gibt es eine Stelle, die man als Anspielung darauf verstehen kann, dass Jesus unehelich gezeugt wurde (Joh. 8, 41). Im Rest des Neuen Testaments wird nichts von der Jungfrauengeburt Jesu erwähnt.

Doch die Jungfrauengeburt Jesu war der frühen Kirche offensichtlich so wichtig, dass sie sie ins apostolische Glaubensbekenntnis aufnahm: „Empfangen durch den Heiligen Geist. Geboren von der Jungfrau Maria.“ Diejenigen, die das formuliert haben, haben es bestimmt nicht metaphorisch, sondern faktisch gemeint. Und sie meinten, die Jungfrauengeburt des Messias sei im Alten Testament vorhergesagt worden: Im Propheten Jesaja (Kap. 7, 14) steht: „Siehe, eine Jungfrau wird schwanger werden und einen Sohn gebären und wird seinen Namen Immanuel nennen.“ So steht es in unserer deutschen Bibelübersetzung, und im Matthäusevangelium wird dieser Vers so zitiert. Doch diese Formulierung hat eine nicht ganz geradlinige Geschichte, und dies wird oft als Argument gegen die Jungfrauengeburt verwendet: Im hebräischen Originaltext steht nicht „Jungfrau“ sondern „Junge Frau“, also eine erwachsene, heiratsfähige Frau. Dem Kontext dieses Verses nach bezog sich die Verheißung zunächst wohl auf ein Kind, das damals geboren werden sollte. Doch spätestens, als im 3. Jh. v. Chr. die hebräische Bibel ins Griechische übersetzt wurde, wurde diesem Text offensichtlich eine zweite, noch tiefere Bedeutung beigemessen, und die „junge Frau“ wurde in der griechischen Übersetzung, der Septuaginta, zur „Jungfrau“. Diese Wortwahl wird verständlich, wenn man das Buch Jesaja weiter liest: In Kapitel 9 wird wieder die Geburt eines Kindes verheißen: „Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst.“ Diese Stelle wird traditionell als Messias-Verheißung aufgefasst. In den ersten Versen von Kapitel 11 wird der Messias nochmal angekündigt. Im Lichte dieser späteren Verse kann man die Schreiber der Septuaginta gut verstehen, wenn sie auch bei Jesaja 7 an den Messias dachten und die (vom hebräischen Text nicht ausgeschlossene) Übersetzung „Jungfrau“ wählten. Und so mancher denkt hier an göttliche Inspiration dieser Übersetzung.

Ob man an die Jungfrauengeburt Jesu glaubt, hängt stark damit zusammen, ob man Jesus nur für einen normalen Menschen hält oder wirklich für Gottes Sohn. Wenn er Gottes Sohn war, ist es ja schon fast zu erwarten, dass er nicht auf normalem Weg gezeugt wird. Und wenn ich, wie in einem früheren Blogbeitrag argumentiert, die Evangelien für glaubwürdig halte, dann muss ich folgern, dass die Aussagen von Lukas und Matthäus auf Information aus der Familie Jesu zurückgehen. Es ist durchaus plausibel, dass diese Begebenheit, die sehr persönlich und anderen schwer zu vermitteln ist, nicht groß rumerzählt wurde.

Aufgrund all dieser Überlegungen beschloss ich, dem Kollegen zu schreiben, dass ich an die Jungfrauengeburt Jesu glaube. Aber ich wollte ihm auch schreiben, dass ich nicht an die katholischen Lehren von der unbefleckten Empfängnis Marias und von ihrer immerwährenden Jungfräulichkeit glaube. Sie werden in der Bibel auch nicht gelehrt. Im Gegenteil, die Bibel erwähnt mehrere Geschwister von Jesus. (Nachtrag vom 30.11.: Eine Leserin wies mich darauf hin, dass in anderen Kulturen auch andere Verwandte, wie Cousins und Cousinen, als Geschwister bezeichnet werden.)

Aber damit habe ich erst seine erste Frage beantwortet. Er hatte ja auch gefragt, wie ich mir die Jungfrauengeburt Jesu erkläre. Als Wissenschaftlerin dachte ich zunächst an all das, was ich über Jungfrauengeburt im Tierreich, die sogenannte Parthenogenese (vom griechischen Wort "parthenos" für Jungfrau), weiß: Ich habe sogar mal ein Forschungsprojekt dazu gehabt: Ein damaliger Kollege aus dem Fachbereich Biologie, ein Bodenökologe, befasste sich mit der Frage, warum so viele Tierspezies, die im Boden leben, parthenogenetisch sind, darunter ungefähr die Hälfte der Bodenmilbenarten. Seine plausible Hypothese war, dass die stabilen Lebensbedingungen im Boden keine sexuelle Reproduktion erfordern. Sexuelle Reproduktion hilft Organismen, sich durch das Erzeugen beständig neuer genetischer Kombinationen an wechselnde Umweltbedingungen und Nahrungsverfügbarkeiten anzupassen. Parthenogenese ist die sparsamere Vermehrungsstrategie, da nur ein Elternteil statt zweien für das Erzeugen von Nachkommen benötigt wird. Sie sollte immer dann gewinnen, wenn stabile Bedingungen keine sexuelle Reproduktion erfordern oder wenn das Überleben so schwierig ist, dass jedes Individuum eigene Nachkommen erzeugen muss. Ich baute ein mathematisches Modell, das die Ideen meines Kollegen umsetzte, und wir konnten seine Hypothesen bestätigen.

Jungfrauengeburt ist auch bei Wirbeltieren bekannt: Man hat sie bei Reptilien, Amphibien, Vögeln und Fischen beobachtet. Aber bei Säugetieren wurde sie bisher nicht beobachtet. Bei Säugetieren haben die vom Vater und von der Mutter geerbten Gene verschiedene Markierungen (das sogenannte „Imprinting“), die dafür sorgen, dass manche Gene nur in der vom Vater geerbten Version aktiv sind, andere nur in der von der Mutter geerbten Version. Bei Parthenogenese würden die von der Mutter geerbten aktiven Gene doppelt so stark dosiert sein, während die väterlichen aktiven Gene ganz fehlen würden. Daher hält man eine natürliche Jungfrauengeburt bei Säugetieren für schwierig bis unmöglich. Doch durch menschliche Manipulation wurden schon Mäuse aus zwei Eizellen erzeugt. Man hat dazu in der einen Eizelle Gene aktiviert, die sonst nur bei der Spermienbildung aktiv sind. Doch eine so erzeugte Maus muss weiblich sein, da sie zwei X-Chromosomen hat. Aus demselben Grund müsste auch jedes andere per Jungfrauengeburt entstandene Säugetier weiblich sein. Doch meine Gedanken sponnen sich weiter, und ich forschte im Internet, ob es XX-Männer gibt. Ja, es gibt sie. Ist also die Jungfrauengeburt eines Mannes aus einer Frau einfach nur extrem unwahrscheinlich (weil die richtigen Mutationen und Genaktivierungen passieren müssen), aber nicht naturgesetzlich unmöglich?

Doch dann stoppte ich diese Überlegungen. Wer bin ich, dass ich erraten kann, wie es ablaufen soll, wenn Gott Mensch wird? Und wieso soll ich ein „natürliches“ Szenario hierfür zurechtlegen? Ist es nicht sehr plausibel, dass Gottes Menschwerdung nicht im Rahmen der üblichen Naturabläufe passiert? Und dass sie unser menschliches Denken sprengt, so dass all unsere Rateversuche daneben gehen müssen?

Auch dies schrieb ich dem Kollegen. Er konnte meine Scheu davor, ein konkretes biologisches Szenario vorzuschlagen, sogar gut nachvollziehen. Und so möchte ich auch in die bevorstehende Adventszeit gehen: Statt theoretische Überlegungen anzustellen, möchte ich mich darauf besinnen, was es bedeutet, dass Gott Mensch wurde. Mein Mann und ich werden jeden Tag der Adventszeit mit einem Advents- oder Weihnachtslied beginnen. Und am ersten Advent singen wir immer dieses Lied:

Macht hoch die Tür, die Tor macht weit;
Es kommt der Herr der Herrlichkeit,
Ein König aller Königreich,
Ein Heiland aller Welt zugleich,
Der Heil und Leben mit sich bringt;
Derhalben jauchzt, mit Freuden singt:
Gelobet sei mein Gott,
Mein Schöpfer reich von Rat.

 

Literaturhinweise: Die erwähnte parthenogenetische Erzeugung einer Maus ist hier beschrieben. Zwei Publikationen über das erwähnte Projekt mit meinem Biologie-Kollegen sind diese und diese.

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